Wir werden die Geister nicht mehr los
Spiritismus. In seinem „Okkulten Brevier“beschwört Essayist Thomas Knoefel die große Zeit der Seancen.´ Die geballte Unvernunft erfasste alle Schichten, inspirierte Künstler – und zeigt in ihren Ursachen beunruhigende Parallelen zu heute.
Ein paar Stunden später, und alles hätte als Aprilscherz durchgehen können: Am letzten Märzabend 1848 hörten zwei überspannte Teenager im Weiler Hydesville im Staat New York seltsame Klopfgeräusche. Bald entdeckten Leah und Kate im Rhythmus einen Code, wie beim Morsen. Zu ihnen sprach die Seele eines fahrenden Händlers, der im Haus ermordet worden war. Die Meldung verbreitete sich rasant, die „Fox Sisters“machten als Berufsmedien Furore, ein Zirkusdirektor vermarktete ihre Tourneen. Das Klopfen hörte nicht mehr auf: Zahllose Geisterbeschwörer folgten den Vorbildern, Berichte über Seancen´ füllten Zeitungen und Magazine.
Der Hokuspokus von Hydesville war der Urknall des modernen Spiritismus, der die westliche Welt über viele Jahrzehnte in einen kollektiven Rausch versetzte – vom Monarchen bis zum Zimmermädchen, vom Wissenschaftler bis zum Künstler. Nicht einmal ein sehr spätes Geständnis der Schwestern, dass sie die Geräusche selbst mit knackenden Zehengelenken erzeugt hatten, führte zur Ernüchterung. Die Geister, die man gerufen hatte, wollte niemand mehr loswerden. Erst um 1930 herum ging der Spuk zu Ende. Wie ist dieser Einbruch des Irrationalen in eine zivilisierte Welt zu erklären?
Auf einen Tee mit den Toten
Auch dieser Frage geht der Essayist Thomas Knoefel in seinem „Okkulten Brevier“nach. Aber nicht, ohne uns in seinen (leider reichlich redundanten) Schilderungen von Se-´ ancen zu Voyeuren des Wahns zu machen: Aus den Mündern der Medien fließt feinstoffliches Ektoplamsa, verdichtet sich zu Materialisationen, Möbel fliegen durch die Luft, Objekte erscheinen und verschwinden, Mozart spielt auf, und Dickens diktiert aus dem Jenseits seinen unfertigen Roman zu Ende. Warum also dieser Tanz der Dämonen, um des Himmels oder der Hölle willen? Weder Zeit noch Ort des Ausbruchs – die industrielle Revolution, die von massiver Einwanderung geprägte US-Ostküste – hält Knoefel für zufällig. Wenn der Druck religiöser und kultureller Normen wegfällt, wenn zugleich ein dogmatischer Materialismus in der Wissenschaft die Welt jedes Wunders beraubt – dann brechen sich Affekte, die keinen Platz mehr haben, im Abseitigen neue Bahn. Und das klingt beunruhigend aktuell.
Gern möchte man nur lachen über die großzügig servierten Anekdoten. Da gab es eine Anna Rothe in Berlin, die Luther und Zwingli zu Gehör brachte, aber die beiden Reformatoren ihrer eigenen Herkunft gemäß sächseln ließ. Als sich herausstellte, dass die von ihr „apportierten“transzendenten Blumen aus dem ganz diesseitigen Laden um die Ecke kamen, musste sie ins Gefängnis. Aber bei Rothe verkehrten auch Karl May und Else Laske-Schüler. In London holte sich Queen Victoria ein Medium an den Hof, in Paris saß das Kaiserpaar regelmäßig mit Toten beim Tee zu Tisch. Auch seriöse Wissenschaftler verfielen der Suggestion: Edison bastelte an einem Apparat, der Verstorbene zum Dialog einladen sollte, Henri Poincare´ und Pierre Curie vermuteten eine neue Form von Physik. Dazu inspizierten sie Medien – wie viele Kollegen, die das Mysterium im Experiment bannen oder Betrügerinnen entlarven wollten.
Oft waren es Objekte nicht nur wissenschaftlicher Begierde: empfindsame und – in den Fantasien der Männer – leicht verführbare junge Frauen. Knoefel zieht Parallelen zu Epochen religiösen Wahns, als die Grenze zwischen Heiligen und Hexen fließend war und Inquisitoren die Körper ihrer Opfer nach Teufelsmalen absuchten. Erotische Beziehungen mit Experimentatoren waren nicht selten, manche mediale Karriere endete in der Prostitution. Aber als Vermittlerinnen zur Geisterwelt hatten Frauen auch die Chance, aus aufgezwungenen Rollen auszubrechen. Besonders weit brachte es dabei die Russin Helena Blavatsky: Sie war als Medium und Salonlöwin berühmt, kämpfte als Mann verkleidet in Schlachten, bestieg in Tibet das Dach der Welt und begründete die Theosophie.
Als immens fruchtbar erwies sich der faule Zauber für die Kunst. Kandinskys erste abstrakte Bilder waren inspiriert von „Nervenvibrationen“, die man damals zu fotografieren meinte. Kupka, der zeitgleich zur Abstraktion durchbrach, war selbst Medium und fühlte in der Malerei einen „Energietransfer“. Franz Marc wollte ins Geisterreich schauen, Schiele überwältigten Visionen eines „astralischen Lichts“, Paul Klee sah in seiner Hand das „Werkzeug eines fremden Willens“. Die Surrealisten erhoben automatisches Schreiben und Malen unter Hypnose zur Methode. Wobei ihr Gründervater, Andre´ Breton, differenzierte: Er lehnte „spiritistischen“Unfug ab, weckte aber die „okkulten“Kreationen des eigenen Unbewussten.
Erst die Show, dann das Kino
Rilke sah das nicht so eng – und war überzeugt, dass ihm zwischen zwei Runden Tischrücken auf Schloss Duino musisch versierte Geister seine Elegien eingegeben hätten: „Ich werde geschrieben.“Hatte also Demokrit recht, für den jeder gute Dichter einen „Anflug von Wahnsinn“erfahren muss? Und Seneca, der jeden Großen von „dämonischem Rasen“umgetrieben sah? Für die Avantgarden der Moderne war der Spiritismus jedenfalls ein fast unerschöpflicher Fundus – und die Kunst selbst wurde zum Ersatzmedium spiritueller Erfahrung.
Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die Passion für das Übersinnliche eine letzte Blüte: zu viele nicht richtig begrabene Tote, zu viele zu tröstende Witwen. Dass dann die „präpsychedelischen Shows“ziemlich abrupt aufhörten, erklärt Knoefel mit dem Siegeszug des Kinos, in dem das Ungeheure eine neue Heimstatt fand. Die drängende Frage müssen die Leser selbst beantworten: Findet die geballte Unvernunft heute neue Formen, um sich auszutoben? Aber schließen wir nicht mit düsteren Grübeleien, sondern mit einem posthumen Bonmot, das uns Oscar Wilde von drüben zukommen ließ: „Being dead is the most boring experience in life.“
Noch einmal möchte ich, gereckten Halses, (. . .) das Unmögliche sehen, das dennoch geschieht. Thomas Mann