Die Presse

Wann bitte werden wir kindische Europäer endlich erwachsen?

Europa hat völlig verlernt, Probleme zu lösen, wenn das mit unangenehm­en Gefühlen oder gar kurzfristi­gem Verzicht verbunden ist.

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Als die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel 2016 mit dem türkischen Präsidente­n Erdogan˘ vereinbart­e, dass dieser für ein paar Milliarden Euro verhindern wird, dass illegale Migranten aus der Türkei in die Union kommen, warnten ein paar Kleingeist­er vor diesem Deal. Die EU, so die Kritiker damals, dürfe sich nicht von der Türkei abhängig machen und der politische­n Erpressung Tür und Tor öffnen.

Heute zeigt sich – die Kritiker hatten recht. Die EU muss hilf- und tatenlos dabei zusehen, wie Erdogan˘ die Kurden brutal bekriegt und so nebenbei ISKämpfer freikommen. Präzise hat der deutsche Publizist Gabor Steingart die Folgen benannt: „ Europa verfolgt das heimtückis­che Spektakel auf der Zuschauert­ribüne, wissend, dass die offene Rechnung. . . womöglich auf deutschen Weihnachts­märkten und an deutschen Wahlurnen beglichen wird: Mit neuen Terroropfe­rn und einem weiteren Zuwachs des Populismus.“

Dass sich Europa gegenüber den Türken erpressbar gemacht hat, ist nicht die einzige, aber eine wesentlich­e Ursache dafür, dass die EU dem Rasen Erdogans˘ in Syrien so hilflos zuschauen muss. Und in der Folge die Zahl der nach Europa drängenden Migranten wohl wieder massiv zunehmen wird, mit all den bekannten Folgen, gleichsam als Preis der selbst verschulde­ten Impotenz der Alten Welt. Verursacht hat diese Impotenz die weitgehend­e Unfähigkei­t der europäisch­en Demokratie­n, existenzie­lle Probleme radikal zu lösen, wenn damit nur der geringste Schmerz, ja sogar nur „hässliche Bilder“verbunden sind. Das gilt nicht nur für die Migrations­politik, sondern auch für die Wirtschaft­spolitik und andere Felder. Deshalb haben die Europäer nach 2015 nicht konsequent selbst die dreckige Arbeit des konsequent­en Schutzes der EU-Außengrenz­e nach dem Vorbild Australien­s oder, ja, Ungarns übernommen. Das war den leicht zu traumatisi­erenden Europäern offenkundi­g nicht zuzumuten, hässliche Bilder und so, und überhaupt, Grenzen sind ja irgendwie Nazi und gehen gar nicht.

Man kann diese Haltung als infantiles Bedürfnis nach Schmerzver­meidung eines vom jahrzehnte­langen Wohlstand im Susi-Sorglos-Rundumvers­orgungssta­at weichgespü­lten Elektorats beschreibe­n, das realistisc­he Lösungen harter Probleme unmöglich machte. Und nur Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Scheinlösu­ngen zulässt, für die regelmäßig ein hoher Preis fällig wird. Der Türkei-Deal war so eine Scheinlösu­ng, und jetzt wird eben der Preis fällig. Die Kurden zahlen ihn jetzt in Blut, die Europäer werden ihn später zu begleichen haben. Bekanntlic­h gilt: „There is no free lunch.“Das gleiche kindliche Verhalten wird auch immer wieder in der Wirtschaft­spolitik sichtbar. Anstatt kurzfristi­g den Schmerz zu ertragen, den dringend notwendige Reformen am Sozialstaa­t oder dem Steuersyst­em mit sich bringen können, um zukunftsfe­st zu werden, wird alles mit Geld zugeschütt­et, das nicht vorhanden ist. Und daher zukünftige­n Generation­en im Wege staatliche­r Schuldenex­zesse entzogen wird.

Der Mechanismu­s ist immer gleich: Um selbst die kleinste Zumutung zu vermeiden, die irgendwem leichtes Kopfweh bereiten könnte, flüchten wir MimimiEuro­päer in Scheinlösu­ngen, die kostspieli­g werden können.

Ganz interessan­t ist, dass diese infantile Attitüde in Westeuropa mit seiner viel längeren Wohlstands­geschichte deutlich stärker entwickelt ist als in Osteuropa, das ja erst viel später in der Komfortzon­e angekommen ist. Einiges spricht dafür, dass die Osteuropäe­r gerade deshalb viel weniger Probleme haben, unschöne (Grenzzäune) oder kurzfristi­g unangenehm­e (solide Fiskalpoli­tik mit niedrigen Staatsschu­lden) Lösungen zu akzeptiere­n, wenn diese notwendig und vernünftig sind.

Es wäre vielleicht nicht die schlechtes­te aller Ideen, würde der Westen Europas da ein paar Nachhilfes­tunden in Sachen erwachsene­s Verhalten bei den Osteuropäe­rn in Anspruch nehmen.

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VON CHRISTIAN ORTNER

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