Political Animal
Boris Johnsons Brexit. Mit dem Deal zum Austritt Großbritanniens aus der EU hat der britische Premier sein politisches Ausnahmetalent bewiesen. Doch der brillante Taktiker verfügt über keine langfristige Strategie.
Meine Prinzipien sind felsenfest. Und wenn sie Ihnen nicht passen, dann habe ich auch noch andere.“Diese Pointe aus der Feder der Marx Brothers wurde immer wieder bemüht, wenn es darum ging, die Person Boris Johnson zu beschreiben. Der Premier Großbritanniens wird von seinen Kritikern als flatterhafter, notorisch unzuverlässiger Opportunist abgestempelt. Doch eines können selbst seine eingefleischten Gegner nicht leugnen: Johnson ist ein begnadeter, leidenschaftlich Gestalter der Politik – ein Political Animal, wie es auf Englisch (in Anlehnung an Aristoteles’ Definition des Menschen als politisches Wesen) heißt. Mit dem Brexit-Deal hat er sein Geschick eindrucksvoll zur Schau gestellt. Und sollte es ihm am Samstag gelingen, diesen Deal durch das Abgeordnetenhaus zu bugsieren, in dem seine Regierung über keine Mehrheit verfügt, ist ihm ein Platz in den Annalen der britischen Politik sicher.
Johnson hatte von Anfang an mit zwei – scheinbar unüberwindbaren – Fronten des Widerstands zu tun: auf der einen Seite mit der EU, die sich von seiner Vorgängerin Theresa May schriftlich zusichern ließ, das im November 2018 vereinbarte Austrittsabkommen werde nicht aufgeschnürt. Und auf der anderen Seite mit den Brexit-Ultras in seiner Partei, für die Zugeständnisse an Brüssel dem Hochverrat gleichkamen. In einer regelrechten Tour de Force hat der Premier beide Hindernisse überwunden. Er brachte die EU dazu, ihren Brexit-Deal wieder aufzuschnüren. Und er neutralisierte damit den Widerstand der Hardliner, die nun von den Vorzügen eines Abkommens schwärmen, das sie noch vor Kurzem in der Luft zerrissen hätten.
Wie ist Johnson dieses doppelte Kunststück gelungen? Indem er das Ausmaß der Erschöpfung aller Teilnehmer des seit dem Referendum im Juni 2016 andauernden Brexit-Dramas erkannt und für seine Zwecke genutzt hat. Für die EU war die Backstop-Klausel für Irland, an der es sich lange Zeit gespießt hatte, kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Da Johnson dazu bereit war, die Inhalte des Backstop anders verpackt zu akzeptieren, gab es für die Europäer keinen Grund mehr, auf der Beibehaltung der Nordirland-Klausel zu pochen. Trotz der Trauer über den Verlust Großbritanniens wäre die Union nicht unfroh über einen raschen, geordneten Brexit – weil sie endlich wieder zur Tagesordnung übergehen könnte.
Vom Brexit erschöpft
In Großbritannien selbst hat die Brexit-Erschöpfung mittlerweile klinische Ausmaße erreicht. Der EU-Austritt überlagert alle anderen Themen. Aus allen Umfragen geht hervor, dass die Mehrzahl der Wähler den Brexit endlich vom Tisch haben will. Diese Stimmung spielt Johnson in die Hände.
Doch was kommt danach? Auf diese Frage gibt es seit dreieinhalb Jahren keine Antwort. Kein Wunder, denn für die Briten ist der Brexit ein Gefäß für die unterschiedlichsten Wunschvorstellungen: Für Wirtschaftsliberale bedeutet der EU-Austritt die Liberalisierung des Handels, für Modernisierungsverlierer mehr Schutz vor der Globalisierung, für Xenophobe ein Großbritannien ohne Ausländer, für Nostalgiker ein Commonwealth 2.0. Einen Spagat zwischen diesen Visionen kriegt selbst der brillante Polit-Taktiker Johnson nicht hin – der, soweit man das bis dato beurteilen kann, selbst keine konkrete Vorstellung von einer Post-Brexit-Zukunft zu haben scheint.
Diese wird er sich schleunigst zulegen müssen, denn der Abschied vom wichtigsten Wirtschaftspartner Großbritanniens markiert den Beginn der schwierigsten Verhandlungen in der Geschichte der Handelspolitik. Für Johnson und die Briten wäre es der größte Fehler, den EU-Austritt für das Ende zu halten. Der Brexit ist am Tag des Austritts nicht vorbei – er geht erst richtig los.