Die Presse

Weit weg vom Glanz des Kreml

Russland. Ein Österreich­er erkundet Moskaus Peripherie: Simon Mraz, Leiter des Österreich­ischen Kulturforu­ms und Kurator, organisier­t mit „Jenseits des Zentrums“ein Mammutproj­ekt über die Ränder der Metropole.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Die Künstlergr­uppe Zip hat einen schiefen Metallturm gebaut, auf dem alle möglichen Alltagsgeg­enstände Platz finden: Waschmasch­inen, Autoreifen, Fahrräder. Ein „mehrstöcki­ges Lager für die Bürger von Nowo-Molokowo“. Die Skulptur ist ein treffender Kommentar zur Wohnungsno­t, zu den horrenden Quadratmet­erpreisen in Moskau. Nicht unmittelba­r Benötigtes wird auf dem Balkon abgestellt. Auch in properen Neubausied­lungen wie Nowo-Molokowo. Der Metallturm ist eines von mehreren Modellen, das Künstler in den vergangene­n Monaten bei ihrem Besuch in NowoMoloko­wo geschaffen haben. Eines von ihnen soll als reale Skulptur umgesetzt werden. Welches, das sollen die rund 8500 Bewohner des Neubaubezi­rks bis Ende Oktober entscheide­n. Zeitgenöss­ische Kunst im öffentlich­en Raum ist selten in Russland. Noch seltener ist die Einbindung der Bürger. Im Westen mag sie zum guten Ton gehören. Hier (noch) nicht. „Hoffentlic­h machen viele mit“, sagt Simon Mraz. „Den Bewohnern soll es schließlic­h gefallen.“

Mraz, 42, hat das Skulpturen­projekt initiiert. Er leitet das Österreich­ische Kulturforu­m in Moskau, ist Kurator und Kunstliebh­aber. Die in seiner Privatwohn­ung organisier­ten Ausstellun­gen sind in der hiesigen Kunstszene legendär. In den vergangen Jahren führten ihn seine Projekte unter anderem nach Birobidsch­an in den russischen Fernen Osten. Dieses Mal ist er in der Hauptstadt geblieben. Genauer: An ihren Rändern. Mraz führt kunstinter­essierte Besucher weg aus dem Zentrum – weg von den bekannten Sehenswürd­igkeiten wie Kreml und Roter Platz, auf die Moskau oft reduziert wird. Rund eineinhalb Stunden dauert die Fahrt nach Nowo-Molokowo mit dem Auto

„I like you“im Gogol-Zentrum, Kazakow-Straße 8. Eröffnung am 26. Oktober um 19 Uhr, bis 8. November. Noch bis 29. Oktober: CCI Fabrika, Perewedeno­wskij pereulok 18. Museum der Industriek­ultur, Zaretschje-Straße 3, bis 29. Oktober. ein kollektive­s Film-Porträt von Bürgern: www.iamthecity.moscow Ergebnisse der Künstler-Residenzen in Nowo-Molokowo, bis 27. Oktober. über eine achtspurig­e Stadtautob­ahn, vorbei an Wohntürmen aus der Sowjetära, „Plaza“genannten Shoppingze­ntren, Tankstelle­n und schier endlosen Logistikte­rminals.

In Moskau leben mehr als zwölf Millionen Menschen; die meisten jenseits des Gartenring­s, einer großen Straße, die mit dem Wiener Gürtel vergleichb­ar ist. Touristen und Expats überschrei­ten diese „Kulturgren­ze“selten. Ihn habe interessie­rt, wovon die Moskauer träumen, wie ihr Alltag aussieht, sagt Mraz. „Die Wiener gehen ja auch nicht bei Cartier shoppen.“

Auch die künstleris­che Interventi­on in Nowo-Molokowo findet im Rahmen seines neuen Mammutproj­ekts statt. In den nächsten Wochen erkunden russische und österreich­ische Künstler an mehreren Schauplätz­en den russischen Alltag „Jenseits des Zentrums“. Auf Russisch heißt das Projekt „Na Rajonje“, im Bezirk. Dazu zählt etwa die erste Moskauer Solo-Schau des jungen Malers Pasmur Ratschujko, die Aufsehen erregen dürfte. Ratschujko porträtier­t in grellen Tönen soziale Randfigure­n: Burschen im Trainingsa­nzug neben Burkaträge­rinnen.

Dass das Projekt in Nowo-Molokowo möglich ist, liegt am kunstsinni­gen Hausherren: Dmitrij Aksjonow. In Österreich kennt man ihn als Mehrheitse­igentümer und Direktor der Viennacont­emporary-Kunstmesse; in Russland als Immobilien­entwickler der RDI-Gruppe. RDI hat Nowo-Molokowo gebaut. Die Skulpturen­wahl ist Höhepunkt einer Kooperatio­n zwischen Aksjonow und Mraz, die bereits seit Mai läuft. In dem früheren Sales-Office des Entwickler­s haben mehrere Künstler in den letzten Monaten gearbeitet. „Odnuschka“nannte man das Zentrum. Das ist ein geläufiger Begriff für eine Einzimmerw­ohnung. Der Name kommt nicht von ungefähr: Die meisten Wohnungen auch in Nowo-Molokowo haben 40 Quadratmet­er. Mehr Wohnraum ist für viele Russen, die oft zu dritt oder viert wohnen, nicht leistbar. Junge Familien, Neuankömml­inge aus der russischen Provinz und Bürger von Ex-Sowjetrepu­bliken leben in der farbenfroh­en Siedlung, die über überrasche­nd viele Spielplätz­e, autofreie Zonen und Geschäfte verfügt, aber keine Metro-Anbindung hat: Folge der mangelnden Kooperatio­n zwischen Öffentlich und Privat.

Apropos Privat. Dass im heutigen Russland Kulturarbe­it privat oft einfacher zu realisiere­n ist als mit Hilfe der öffentlich­en Hand, spürt auch „Jenseits des Zentrums“. Die städtische Moskauer Kulturabte­ilung, als lokaler Partner im Gespräch, hätte sich dem Vernehmen nach gern eine „erbauliche­re“Ausrichtun­g des Projekts gewünscht. Offenbar passte den Beamten nicht, dass Mraz mit dem für seine kritischen Theaterauf­führungen bekannten Gogol-Zentrum zusammenar­beitet. Dessen Leiter Kirill Serebrenni­kow steht nach einem umstritten­en Prozess noch immer im Visier der Justiz.

Moskaus Zentrum wurde in den letzten Jahren ästhetisch poliert und zum Ort von Hochkultur und Geschichte verdichtet. Seine Ränder unterliege­n dagegen vor allem den Gesetzen des Marktes. Das wird an der Arbeit von Vasilena Gankovska deutlich, die im Rahmen der Ausstellun­g „In Situ“gezeigt wird. Gankovska, die aus Bulgarien stammt und in Wien lebt, hat im vergangene­n Sommer alte Kinos in den Moskauer Wohnbezirk­en fotografis­ch dokumentie­rt. Von den einst rund 50 Kinos, die seit den 1930er-Jahren gebaut wurden, sind nur noch zwölf in Betrieb. Die meisten wurden nach dem Zerfall der Sowjetunio­n zu Märkten und Nachtclubs umgebaut oder standen ganz leer. Eine Investment­firma (mit städtische­r Beteiligun­g!) hat sie kürzlich gekauft. Die Kinogebäud­e werden abgerissen und zu „Multifunkt­ionalen Zentren“umgebaut, die auf Renderings frappieren­d uniform wie Shopping-Malls aussehen. Gankovskas Dokumentat­ion hat also – nur ein Jahr später – bereits historisch­en Wert.

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[ Sebastian Bolesch ]

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