Weltpolitik in Strickjacke und Pulli
Wendezeit. Der kommunistische Gletscher schmolz vor 30 Jahren dahin. Europa aus dem Kalten Krieg herauszuführen brauchte Politiker von Format. Zum Glück waren sie da.
Eine „Zeit, die noch keinen Namen hat“, so nannte der deutsche Bundespräsident Roman Herzog 1995 pointiert die Jahre nach dem Sturz der Ostblockregime. Es geht um 1989 bis 1992, Scharnierjahre, an deren Beginn die explosive Kraft von Völkern stand und in denen die Welt neu geordnet wurde, friedlich, in einem beispiellosen Geist der Zusammenarbeit. Der symbolische Höhepunkt war der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989.
Europa aus dem Kalten Krieg herauszuführen, das erforderte die kreative Beteiligung einer kleinen, eng verbundenen Gruppe von Staatsmännern. Es waren dies Helmut Kohl, Michail Gorbatschow, George Bush, Francois¸ Mitterrand und Margaret Thatcher. Nichts hatte diese führenden Politiker auf einen derart raschen Wandel, auf ein Ende des Kalten Kriegs, vorbereitet. Sie waren Manager einer komplizierten Koexistenz antagonistischer Blöcke gewesen. Sie konnten also nur improvisieren, sich dem radikalen Wandel mit Vorsicht nähern, ohne gemeinsame Entwürfe für die künftige Weltordnung. Krieg musste vermieden, Bruchstücke in einem neuen Mosaik zusammengefügt, das Problem der deutschen Einheit gelöst werden.
Kristina Spohr hat in ihrem neuen Buch „Wendezeit“den „Managern des Wandels“über die Schulter geschaut. Die Autorin lehrt Geschichte und Politik an der London School of Economics und der Johns Hopkins University in Washington. Nun liefert sie uns in extremer Breite den Kontext der Wendejahre bis hin zu den Ereignissen am Tian’anmen-Platz.
2016 hat sie auch einen Sammelband „Transcending the Cold War“herausgegeben, in dem die zentrale These vertreten wird: Die friedliche geopolitische Umwälzung am Ende des Kalten Kriegs 1989/90 hat ihre Wurzeln schon in der Gipfeldiplomatie der 1970er- und 80er-Jahre. Persönlichkeiten, persönliche Beziehungen zwischen Staatsmännern, der Wille der Akteure zum politischen Handeln spielten dabei die zentrale Rolle. Mögen auch am Ende vieler Gipfeltreffen keine fassbaren Resultate in Form von Verträgen sichtbar gewesen sein, der direkte Austausch von Ansichten habe geholfen, den Konflikt zu entschärfen.
Nicht nur strukturelle Entwicklungen und der Generationenwechsel im Ostblock seien also ausschlaggebend gewesen, sondern auch Gipfeldiplomatie ganz in der guten alten Tradition habe als „icebreaker“, vor allem auf der symbolischen Ebene, gedient. Durch die Einführung der Simultanübersetzung in den 80er-Jahren kamen die Unterredungen einer echten Konversation auch wesentlich näher.
Politiker bauten persönliche Beziehungen auf, schufen auf dieser Ebene Vertrauen und eröffneten ungeahnte Handlungsspielräume. „Sie waren nie nur Figuren in einer Geschichte, die von anderen erzählt wurde, sondern mit all ihren Unzulänglichkeiten starke Gestalter ihrer eigenen Zeit.“(Spohr)
Auch aufgrund persönlicher Biografien konnten die Staatsmänner zur Annäherung von Ost und West beitragen. „Only Nixon could go to China“sagte man damals, nur ein strammer Konservativer also mit den nötigen antikommunistischen Credentials konnte zum ideologischen Gegner reisen, ohne dass man ihm Schwäche vorwarf. Willy Brandt konnte in die DDR reisen, es war glaubwürdig, wenn er als ehemaliger Widerstandskämpfer gemeinsam mit DDR-Staatschef Willy Stoph einen Kranz für die Opfer des Faschismus niederlegte. Dem amerikanischen Präsidenten Bush gelang es, mit dem Reformer im Kreml, Michail Gorbatschow, eine Vertrauensbasis aufzubauen.
Am Tag nach dem Mauerfall führte der deutsche Kanzler Helmut Kohl vier lange Telefongespräche, mit Thatcher, Mitterrand, Bush und Gorbatschow. Die Idee der „Einheit“und damit eines erstarkten Deutschland, vor zwei Tagen noch unvorstellbar, lag ab nun spürbar in der Luft, doch alle Beteiligten vermieden es, auch nur das Wort in den Mund zu nehmen. Kohl selbst sprach alles andere als nationalistisch und beruhigte so seine Gesprächspartner, der deutsche Kanzler fühlte sich nun sicher in seinem Weg. „De Bärn is g’schält“(„Die Birne ist geschält“) sagte er zu seinen Beratern, mit breitem Lächeln.
Englands „Iron Lady“sah das aber doch anders, obwohl sie das Ende des Kommunismus in Europa herbeisehnte. Ihre Haltung gegenüber den Deutschen war historisch bedingt, der Zweite Weltkrieg hatte sie tief geprägt. Es kam zu einem heftigen Zusammenstoß mit Kohl beim EG-Gipfel am 18. November 1989 in Paris. Thatcher lehnte, wütend aufstampfend, jede Änderung der Grenzen in Europa ab, ihre Obsession: Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen, jetzt sind sie wieder da. Mitterrand saß schweigend daneben. Dachte auch er so? Grund für Kohl, sich unbehaglich zu fühlen, doch die Partnerschaft mit Frankreich war in der Vergangenheit sorgfältig aufgebaut worden. Darauf konnte er vertrauen, auch wenn Mitterrand, Jahrgang 1916, dem Jahr der Schlacht von Verdun, auch seine antideutschen Aversionen besaß.
Die Lady in London blieb auf ihrem Kriegspfad gegen die Wiedervereinigung isoliert. Sie stand am Rand der europäischen Politik, ein Ort, an dem sie sich nicht unwohl fühlte. Und sie hatte kaum praktische Alternativen anzubieten. Der Zuspruch der USA war ohnehin vorbehaltlos. Die Wiedervereinigung war auf der internationalen Tagesordnung. Es blieb Moskau. Mit jedem Vorpreschen Kohls wurde Gorbatschow zunächst zorniger, er fühlte sich verraten. Ihn zu beruhigen und davon zu überzeugen, dass der ostdeutsche Staat nur mehr eine leere Hülle war, wurde nun ein wichtiges Ziel der deutschen Regierung. Gorbatschow schaute der Vielfalt nationaler Ausstiege aus dem Kommunismus zu, ohne einzugreifen, das gab Kohl Spielraum und Hoffnung.
Es begann mit einem entspannten Tete-`ˆaTeteˆ zwischen Bush und Gorbatschow in Malta Ende 1989, man war „auf der gleichen Wellenlänge“(Bush). Das Treffen stand „sinnbildlich für den großen Reiz persönlicher Gipfeltreffen“(Spohr). Hier kam es zur allerersten gemeinsamen Pressekonferenz der Supermächte. Damit schien der Kalte Krieg nach mehr als vierzig Jahren beendet.
Mit Unterstützung der USA erhielt Kohl am 10. Februar 1990 im Kreml die Zustimmung zur deutschen Einheit. Er war vor Freude den Tränen nahe. Legendär wurde dann sein privates Treffen mit Gorbatschow am 16. Juli 1990 im Kaukasus. Es entstanden Bilder mit Kohl in der Strickjacke und Gorbi im dunklen Pullover, in einer herzlichen Atmosphäre, wie sie die Welt vorher nicht gekannt hatte. Am Tag danach konnte Kohl verkünden, dass Deutschland mit dem Zeitpunkt seiner Vereinigung uneingeschränkte Souveränität haben werde, inklusive NatoZugehörigkeit. Egon Bahr dazu treffend: „Ohne eine gewisse Intimität sind große Erfolge nicht erreichbar.“