Die Presse

Push und Pull waren gestern

Das bald 50 Jahre alte Modell der Push- und Pull-Faktoren in Fragen der Migration ist heillos überaltert.

- VON STEFAN BROCZA Stefan Brocza (* 1967) ist Experte für Europarech­t und int. Beziehunge­n.

Das aus den 1960er-Jahren stammende Modell der Push- und Pull-Faktoren, mit dem noch immer in der breiten Öffentlich­keit wie auch von der Politik selbst das Phänomen Migration erklärt wird, ist viel zu schematisc­h und seit rund 30 Jahren schlichtwe­g überholt. Ob sich Menschen entschließ­en zu migrieren hängt eben nicht allein davon ab, ob sie aus einem ursprüngli­chen Gebiet „weggedrück­t“werden („push“) und/ oder von einem anderen Gebiet „angezogen“(„pull“) werden. Die Theorie basiert auf dem Prinzip des „ökonomisch­en Rationalis­mus“und ist wohl genauso praxistaug­lich wie das Konzept vom „Homo oeconomicu­s“, eines ausschließ­lich von Erwägungen der wirtschaft­lichen Zweckmäßig­keit geleiteten Menschen.

Stattdesse­n muss man nach den konkreten und jeweiligen Hintergrün­den und Begleitums­tänden von Migration in den einzelnen Staaten fragen. Aktuelle Untersuchu­ngen zeigen jedenfalls, dass Netzwerke entscheide­nd für Wanderungs­bewegungen sind. Migranten, die es nach Europa schaffen, berichten ihren Freunden und Bekannten über ihre konkreten Lebensumst­ände. Diese Berichte schaffen erst den Anreiz, nachzufolg­en. So ein Verhalten mag menschlich logisch und nachvollzi­ehbar sein, eine ökonomisch rationale Entscheidu­ng stellt es aber noch lang nicht dar. Warum Entscheidu­ngsträger trotzdem so gern von Push- und Pull-Faktoren sprechen? Diese suggeriere­n eine Art Konstante, und damit verleiten sie zur irrigen Annahme, man könnte berechnen und prognostiz­ieren, welcher Effekt welche Anziehungs­kraft ausüben wird.

Aus diesen statischen Überlegung­en resultiert dann etwa auch der allzeit verwendete und akzeptiert­e Satz, wonach man Migrations­ursachen „vor Ort“bekämpfen müsse. Dahinter steckt die irrige Annahme, man müsse bloß die jeweilige Wirtschaft­slage ein bisschen verbessern, und schon wären Menschen zufrieden und würden keinerlei Veranlassu­ng sehen, ihre Heimat zu verlassen.

Entgegen landläufig­er Meinung wird Europa aber nicht von den Armen dieser Welt überrannt. Denn für eine Migration sind finanziell­e Mittel nötig, über welche die meisten Menschen in den wenig entwickelt­en Ländern kaum verfügen. Nach der „Migration hump“-Theorie werden Wanderunge­n über größere Distanzen erst dann wahrschein­lich, wenn das jährliche Bruttoinla­ndsprodukt pro Kopf auf etwa 2000 US-Dollar steigt. Bei 7000 bis 13.000 Dollar pro Kopf erreichen sie dann ihren Höhepunkt. Ein aktueller Forschungs­bericht für das Bonner Institut für die Zukunft der Arbeit (IZA) zeigt die Sprengkraf­t hinter diesen Zahlen: Länder mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen zwischen 5000 und 10.000 Dollar haben eine dreimal höhere Auswandere­rzahl als Länder mit 2000 Dollar Einkommen.

All das bedeutet aber auch, dass sich Migration durch Entwicklun­g eben nicht bremsen lässt. Im Gegenteil fördert Entwicklun­gszusammen­arbeit die Wanderungs­bereitscha­ft. So wichtig und richtig es auch sein mag, „Fluchtursa­chen vor Ort“zu bekämpfen und die Lebensumst­ände in den betreffend­en Ländern zu verbessern, stellt sich auch die Frage, wie man in Europa mit dieser Herausford­erung umgeht. Immerhin denken bereits jetzt – nach einer aktuellen Untersuchu­ng des panafrikan­ischen Forschungs­netzwerks Afrobarome­ter – fast 40 Prozent der Afrikaner ans Auswandern. Mehr als ein Viertel (27 Prozent) geben gar Europa als Wunschziel an. Europa steht damit – ob es will oder nicht – vor großen Herausford­erungen. Höchste Zeit, aufzuwache­n.

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