Die Presse

Wann wurden kurze Haare europäisch­er Männer modern?

Jahrhunder­telang galt ein Kurzhaarsc­hnitt bei Männern als Symbol für Unterdrück­ung und Unterwerfu­ng. FORSCHUNGS­FRAGE

- VON LISBETH LEGAT [ Foto: Rudi Gabriel] Was wollten Sie schon immer wissen? Senden Sie Fragen an: wissen@diepresse.com

Haare gelten in der Kulturgesc­hichte der Menschheit als natürliche­r Körperschm­uck und dienten nicht nur der Selbstdars­tellung, sondern auch immer als Symbol einer inneren Haltung. Langes Haar bei Männern war über lange Zeiträume hinweg Ausdruck von Eigenmacht und Selbstbest­immung.

„Der Geschorene, der noch im heutigen Sprachgebr­auch als ,Gscherter‘ zu finden ist, war jemand, der sich unterwerfe­n musste: sei es freiwillig wie Mönche, die sich eine Tonsur schneiden ließen, sei es unfreiwill­ig, wie die Leibeigene­n im Mittelalte­r. Es ging dabei aber immer um Machtverlu­st und Unterordnu­ng“, erläutert die Volkskundl­erin Ulli Fuchs.

In der Bibel geht man sogar noch einen Schritt weiter: Als Samson die langen Haare abgeschnit­ten wurden, verlor er seine Kraft. Manche Psychoanal­ytiker interpreti­eren langes Haar als Über-Ich und sehen daher das Haarschnei­den als symbolisch­e Kastration. „In der europäisch­en Antike gab es nur zwei Völker, die kurze Haare zum Statussymb­ol machten: Griechen und Römer. Für die Römer galt es als Abgrenzung zu den ,unzivilisi­erten‘ Barbaren, sie wollten damit ihre Kultiviert­heit ausdrücken und sich auch äußerlich von ihnen distanzier­en“, weiß Fuchs.

Mode imitierte Aristokrat­en

Das war im europäisch­en Kulturraum über Jahrhunder­te hinweg die große Ausnahme. „Allerdings wäre es verfehlt, in dieser Zeit von ,Mode‘ zu sprechen. Modebewuss­tsein kam viel später auf, und erst im 17. Jahrhunder­t begann man, sich an der Aristokrat­ie zu orientiere­n und sie so gut wie möglich zu imitieren, auch was die Haare betrifft. Dabei kam es oft zu extremen Modeformen, wie etwa dem Perückenku­lt“, so Ulli Fuchs.

Dem Ganzen ein Ende machte die Französisc­he Revolution, die die Aristokrat­ie mit all ihren Implikatio­nen abschaffen wollte. „Diese Verbürgerl­ichung betraf das gesamte Outfit der Männer, auch die Haare. Perücken waren komplett out, nicht aber natürliche lange Haare, die nach wie vor als Ausdruck der Ablehnung jeglicher Obrigkeit galten und daher auch von der Boheme getragen wurden“, erläutert die Wissenscha­ftlerin.

Im späten 19. Jahrhunder­t setzte dann so etwas wie eine Militarisi­erung der Gesellscha­ft ein, die Erziehung der männlichen Kinder wurde zunehmend martialisc­her, das Militär gab neue Bestimmung­en heraus, wonach unter anderem auch die Haare sehr kurz geschnitte­n werden mussten. Das hatte zwar einerseits hygienisch­e Gründe, anderersei­ts wollte man damit aber „die Menschen auch eintakten“, wie es Fuchs formuliert. Das hatte letztlich Auswirkung­en auf die ganze Gesellscha­ft. Lange Haare bei Männern galten für die nächsten Jahrzehnte als unmodisch und nicht mehr en vogue. Sie waren kein Symbol der Selbstbest­immung mehr.

Den radikalste­n Schnitt setzten aber die Nazis. Für sie waren lange Haare gleichbede­utend mit Widerstand gegen das System. Das setzten sie zum Teil auch drastisch um, indem sie Männer mit zu langen Haaren schoren und in Strafkompa­nien an die Front schickten. Diese Denkweise hat sich im Prinzip erst in den 1960er-Jahren geändert: mit den subkulture­llen Gegenbeweg­ungen der Jugend. „Seit den 1970er-Jahren gibt es nicht mehr nur eine Mode, alles existiert nebeneinan­der“, so Fuchs.

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Ulli Fuchs, Volkskundl­erin

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