Die Tür muss aufgerissen werden Von Wien nach Toronto
Mit einem der Kindertransporte von 1939 entkam Josef Eisinger dem nationalsozialistischen Wien. Eine neue Heimat fand der spätere Physiker und Molekularbiologe in Kanada. Ein Porträt.
Ich bin ein Wiener. Ich bin in Wien geboren, bin in Wien in die Schule gegangen, ich habe in Wien meine Kindheit erlebt, ich bin in Wien glücklich und unglücklich gewesen. Ich bin eben ein Wiener. Ich bin so lange in dieser Stadt gewesen, bis mich ein Herr aufgefordert hat, sie zu verlassen. Es war Herr Hitler.“
Mit diesen Worten begann der damals 15-jährige Josef Eisinger im Herbst 1939 sein Tagebuch. Er verdingte sich zu dieser Zeit als Landarbeiter auf der Low Farm in Bishop Monkton, einem Dorf im Bezirk Harrogate in North Yorkshire, England. Das Tagebuch war für das jüdische Flüchtlingskind, das ohne seine Eltern ein paar Monate zuvor, im März 1939, Wien verlassen musste, „ein Tröster in traurigen Stunden“.
„Am Tag meiner Abfahrt begleitete mich Mutti zum Westbahnhof. Ich trug Knickerbocker, was für Wiener Teenager (. . .) üblich war. (. . .) Der Bahnhof wimmelte von Polizei und Gestapo, die unsere Koffer nach Geld und Schmuggelgut durchsuchten. Sie verspotteten die unglücklichen Eltern und verboten ihnen, Gefühle beim Abschied am Bahnsteig zu zeigen – (. . .) Nachdem wir Kinder in die Eisenbahnwaggons eingestiegen waren, fand es ein Nazifunktionär lustig, dass er uns – als der Zug abfuhr – ein Volkslied, das jedem österreichischen Kind bekannt war, singen hieß: , Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus, und du mein Schatz bleibst hier . . .‘“
Dem jüdischen Bub aus Wien war es gelungen, mithilfe eines sogenannten Kindertransportes zu flüchten.
Josef Eisinger wurde am 24. März 1924 als Sohn von Rudolf und Grete Eisinger geboren. Beide betrieben im ersten Wiener Gemeindebezirk unter der Ankeruhr am Hohen Markt ein Familienunternehmen, das Meeresschwämme, Chamois-Leder, Luffa-Waschschwämme und andere Toiletteartikel importierte und verkaufte.
Die Wurzeln der Familie Eisinger liegen im heutigen Grenzgebiet von Tschechien und der Slowakei im südmährischen Göding (heute Hodon´ın), einer Kleinstadt mit einer jüdischen Gemeinde, wo Rudolf Eisinger 1883 zur Welt kam. 1891 übersiedelte seine Familie aus ökonomischen Gründen nach Zistersdorf in Niederösterreich. Rudolf Eisinger verdiente als Viehhändler sein Geld und zog schließlich während des Ersten Weltkrieges nach Wien, wo er sich mit seinem Familienunternehmen etablieren konnte und seine beiden Kinder Ilse und Josef zur Welt kamen. Die beiden wuchsen in einem behüteten Elternhaus auf und verbrachten eine glückliche Kindheit. Den in Österreich in der Zwischenkriegszeit ansteigenden Antisemitismus nahm Josef nur anekdotisch wahr: Einmal „vertraute ein Kunde in der Provinz Papa an, dass er gehört hätte, dass seine Firma jüdisch sei, worauf mein Vater seine Bedenken besänftigte, indem er ihm versicherte, dass die Firma genauso jüdisch sei wie er selbst“.
Von den Gymnasien ausgeschlossen
Wenige Tage nach dem „Anschluss“im März 1938 beging Josef Eisinger seinen 14. Geburtstag. Mit 29. April wurden alle jüdischen Mittelschüler, darunter Josef Eisinger, von den Gymnasien ausgeschlossen. Er musste noch für kurze Zeit eine sogenannte Judenschule in der Sperlgasse im zweiten Bezirk besuchen, bevor ihm der Schulbesuch endgültig untersagt wurde. Nachdem seine Familie in den darauffolgenden Monaten sukzessive ihrer politischen Rechte beraubt worden war, ihre persönliche Bewegungsfreiheit immer mehr eingeschränkt, die jüdische Bevölkerung systematisch ausgeraubt wurde, jüdische Männer den Vornamen „Israel“, jüdische Frauen den Namen „Sara“tragen mussten, sah Josef Eisinger am 9. und 10. November die bei der von den Nationalsozialisten sogenannten Reichskristallnacht in Brand gesteckten Synagogen und den Furor des Straßenmobs. Das Geschäft seines Vaters wurde beschlagnahmt, dieser aber nicht – wie so viele andere – verhaftet und ins KZ verbracht.
Diese ersten großangelegten, organisierten und gelenkten Gewaltmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung, an denen sich allzu viele Mitbürger gerne beteiligten, steigerten den staatlichen Antisemitismus bis zur Existenz- und Lebensbedrohung für die Jüdinnen und Juden im ganzen Deutschen Reich. Spätestens nach den gewaltsamen Ereignissen der Novemberpogromtage war vielen klar, dass jegliche Fluchtgelegenheit genutzt werden musste, auch wenn die Familie dabei auseinandergerissen würde. Eine Möglichkeit tat sich auf als die briti 1938, vor allem aber nach den schockierenden Nachrichten über die Novemberpogrome die Einreisebestimmungen für Kinder lockerte. Die Kinder konnten mit pauschal erteilten Sammelvisa einreisen. Die sogenannten Kindertransporte waren neben der Jugend-Alijah die wichtigsten Rettungsaktionen für unbegleitete jüdische Kinder und Jugendliche. Mit den Kinderzügen wurden zwischen dem 10. Dezember 1938 und dem 22. August 1939 jüdische Kinder nach Großbritannien, auch nach Holland, Frankreich, Belgien, Schweden und die USA gebracht. Organisation und finanzielle Hauptlast trug das Refugee Children’s Movement. In Wien musste die Israelitische Kultusgemeinde, Abteilung Kinderauswanderung, die Kinder auswählen. Die IKG war für die administrativen Vorbereitungen verantwortlich gemacht worden und der Zentralstelle für jüdische Auswanderung sowie der Gestapo reportpflichtig. Die Society of Friends (Quäker) wählte konfessionslose sowie christliche Kinder jüdischer Herkunft aus.
Der 15-jährige Josef Eisinger fand zunächst Arbeit als Hilfskraft auf einer Farm in Yorkshire, dann als Abwäscher in einem Hotel in Brighton. In dieser Zeit begann er sein Tagebuch zu schreiben. Die Furcht der Briten, dass sich unter den Zigtausenden deutschen und österreichischen Flüchtlingen, die 1938/39 nach England kamen, Nationalsozialisten befinden könnten, stieg nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges massiv an, und nicht wenige Vertriebene waren mit dem Verdacht der Spionage konfrontiert. Aus diesem Grund wurden ab Mitte September 1939 Überprüfungstribunale („Alien Tribunals“) eingerichtet, die alle Ausländer prüfen und über eine allfällige Internierung entscheiden sollten.
Auch Josef Eisinger wurde interniert, unter anderem auf der Isle of Man. Nach der Besetzung der Benelux-Staaten und Frankreichs sowie der Gefahr einer deutschen Invasion in Großbritannien wurden internierte Flüchtlinge zusammen mit Kriegsgefangenen und NS-Sympathisanten nach Kanada und Australien verbracht. Im Juni 1940 verließ das erste Schiff mit circa 400 Deutschen und Österreichern den Hafen von
Liverpool in Richtung Kanada. Es folgten drei weitere Transporte, von denen einer allerdings – mit dem Schiff Arandora Star – im Nordatlantik von einem deutschen U-Boot versenkt wurde. Auch Josef Eisinger wurde – am 4. Juli 1940 mit dem vierten und letzten Schiff, dem polnischen Passagierdampfer Sobieski, – nach Kanada zwangsverschickt und dort in mehreren Lagern angehalten, wo er als Holzfäller und Zimmermann arbeiten musste. Darüber hinaus konnte er aber seine durch nationalsozialistische Repression, Verfolgung und Flucht unterbrochene Ausbildung in einer Schule fortsetzen, die von Mitgefangenen, hauptsächlich jüdischen Flüchtlingen, geleitet wurde.
Eisinger blieb stets das große Glück bewusst, dem Nazi-Terror entkommen zu sein; aufgrund seiner Jugend beschreibt er die Internierung und die vielfältigen Erfahrungen dieser Zeit als bereichernd, zumal er seine engste Familie bald in Sicherheit wusste und sich im offenen Kanada willkommen fühlte. Nach seiner Entlassung absolvierte Eisinger den Militärdienst in der kanadischen Armee und begann schließlich eine wissenschaftliche Laufbahn, die ihn an die University of Toronto führte, wo er Mathematik, Physik und Astronomie studierte. Am Massachusetts Institute of Technology promovierte er im Bereich der Kernphysik und arbeitete viele Jahre seines Berufslebens in der Grundlagenforschung einer amerikanischen Telefongesellschaft.
Anfang der 1960er-Jahre verlagerte sich sein Forschungsinteresse von der Physik auf die Molekularbiologie. Eisinger publizierte in zahlreichen Fachzeitschriften und wandte sich schließlich der Geschichte der Medizin zu. Später, als Professor an der Mount Sinai School of Medicine in New York, forschte er bis zu seiner Pensionierung im Bereich der Biophysik. 2016 veröffentlichte Eisinger die Erinnerungen an seine Kindheit in Wien, an seine Flucht mit einem Kindertransport sowie sein Leben als Flüchtling mit dem Titel „Flight and Refuge. Reminiscences of a Motley Youth“. Das Buch ist eine Kompilation verschiedener autobiografischer Aufsätze, die zu verschiedenen Zeiten und zu verschiedenen Anlässen verfasst worden sind.
„Kaum ein tragisches Schicksal“
Josef Eisinger, der eine solch dramatische Jugend erleiden musste, der die Verfolgung durch die Nationalsozialisten erlebte, allein in ein fremdes Land fliehen und zurechtkommen musste, der lange um die Eltern bangte und sich ein neues Leben auf einem fremden Kontinent aufbaute, sah jedoch sein Schicksal als Flüchtling als „kaum ein tragisches“an, sondern als „erfreuliches“, denn er und seine engsten Familienmitglieder „hatten das Glück, den Krieg und die Nazi-Zeit zu überleben und in fernen Städten ein erfüllendes Leben zu finden“. Viele seiner entfernteren Verwandten, darunter Cousinen und Cousins, Tanten und Onkeln, waren im Holocaust ermordet worden. Das Grauen der Shoah blieb ihm Zeit seines Lebens „stets im Bewusstsein haften“.
Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes legte im Frühjahr 2019 in Zusammenarbeit mit dem Autor eine von Kitty Weinberger übersetzte sowie von Christine Schindler und mir bearbeitete deutsche Ausgabe seiner Erinnerungen vor. Die eng an das englische Original angelehnte Autobiografie „Flucht und Zuflucht“ist inhaltsreich sowie spannend zu lesen. Das Buch konzentriert sich auf Eisingers Erinnerungen, vor allem an die ersten Jahre des Exils und die Odyssee durch die verschiedenen Lager, aber auch seine abenteuerlichen Erlebnisse nach Kriegsende. Die ebenso dramatische Flucht seiner Eltern, denen im Spätherbst 1939 buchstäblich in letzter Minute die Flucht über die Donau und das Mittelmeer nach Palästina gelang, arbeitet der Autor auch historisch auf. Das Buch ist ein Plädoyer für Weltoffenheit, Vernunft und Menschlichkeit.
Seine Rolle als einer der letzten Zeitzeugen an die NS-Herrschaft reflektiert der heute 95-jährige Josef Eisinger so: „Umgeben von einer innig verbundenen Familie und einem schrumpfenden Freundeskreis, bin ich mir zunehmend meiner Rolle im letzten Akt eines Theaterstücks bewusst. Ich genieße diese Rolle immer noch, obwohl die Klänge von Haydns Abschiedssymphonie hinter den Kulissen hörbar sind.“Q