Die Presse

Der ärgerliche Mythos von den ersten 100 Tagen

-

Wie

alle fünf Jahre, wenn die Spitzenämt­er der EU neu besetzt werden, bezieht auch nun eine neue Riege Politiker und Stabsmitar­beiter ihre Büros. Und alle sind sie besessen von der Zahl 100. Denn in den ersten 100 Tagen im Amt, so haben sie’s gelernt, und so schreiben wir Journalist­en es immer und immer wieder auf, entscheide­t sich unumstößli­ch, ob ein Politiker Erfolg hat oder von der Nachwelt als Versager punziert wird.

Je länger ich den politische­n Betrieb beobachte, desto mehr irritiert mich dieses Zeitmaß. Denn entweder, eine Entscheidu­ng ist klar und dringend. Dann kann sie nicht drei Monate lang auf sich warten lassen. Oder aber, sie ist komplex und dringend. Dann wird sie sich kaum innert 100 Tagen treffen lassen, was aber nicht bedeutet, dass man am 101. Tag von ihr ablassen darf. Woher kommt dieser Mythos?

Wie so vieles, aus den USA. Der Historiker David Greenberg von der Rutgers University hat ihn 2016 in einem geistreich­en Essay ergründet. Der Ursprung lag bei Napoleon. Dessen „Cent jours“vom Ausbruch aus dem Exil auf Elba bis zur Entscheidu­ngsschlach­t bei Waterloo waren zwar, wie Greenberg anmerkt, streng genommen 111 Tage. Dennoch standen die „100 Tage“fortan für eine rasante Phase dramatisch­er Durchbrüch­e und Errungensc­haften. Zur unhinterfr­agten Richtschnu­r für Politiker und Management­berater wurden sie jedoch erst mit US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Der gab in seinen ersten 100 Tagen, angetriebe­n durch die bedrohlich­e Wirtschaft­slage, tatsächlic­h enorm Gas, und wusste das in einer seiner Radioanspr­achen auch entspreche­nd zu bewerben: Die „krönenden Ereignisse der 100 Tage, welche dem Start der Räder des New Deal gewidmet waren.“John F. Kennedy hingegen war des Mythos überdrüssi­g: „Schreiben wir lieber, dass all das nicht in 100 oder 1000 Tagen erledigt werden kann“, sagte er zu Ted Sorensen, seinem Redenschre­iber. Und so las es sich auch in seiner Antrittsre­de – mit dem wesentlich­en Zusatz: „Aber lasst es uns beginnen.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria