Auftragsmord löst Krise aus
Geheimdienst-Krimi. Nach einem Mord in Berlin führt die Spur in den Kreml. Das deutsche Außenministerium weist zwei russische Botschaftsmitarbeiter aus.
Am 23. August verbreitet die Berliner Polizei eine Kurznachricht: „Gegen zwölf Uhr soll in Moabit ein unbekannter Fahrradfahrer einen Mann erschossen haben.“Zu diesem Zeitpunkt ahnt noch niemand, dass der Berliner Stadtteil Moabit Schauplatz eines Geheimdienst-Krimis geworden sein dürfte und die Bluttat eine diplomatische Krise zwischen Deutschland und Russland auslösen würde.
Denn die Behörden in Berlin gehen von einem Auftragsmord aus – und zwar auf Befehl von staatlichen Stellen in Moskau oder der Teilrepublik Tschetschenien. Und weil Russland bei der Aufklärung des Falls bisher nicht ausreichend mitgewirkt hatte, wählte das Außenministerium nun eine der schärferen Waffe des diplomatischen Arsenals: Es wies zwei Mitarbeiter der russischen Botschaft aus. Moskau kündigte Vergeltung an.
Die beiden zur Personae non gratae erklärten Mitarbeiter sollen dem russischen Militärgeheimdienst GRU angehören. Das ist wohl genauso wenig Zufall wie der Zeitpunkt der Ausweisung. Die Generalbundesanwaltschaft riss am Mittwoch den Mordfall an sich. Sie schaltet sich ein, wenn es um Terror geht oder ein ausländischer Staat seine Finger im Spiel haben könnte. Und die Behörde hat dafür „zureichend tatsächliche Anhaltspunkte“, die sie am Mittwoch auch in ungewohnter Offenheit auflistete.
Verdächtiger hatte falsche Identität
Berlin schwieg lang zu dem heiklen Fall. Das gefiel nicht allen in der Hauptstadt. Doch die Regierung wollte keine unnötige Krise mit Moskau provozieren, nicht ohne ausreichend Indizien. Man hielt den Ball flach, vielleicht auch, weil das Mordopfer, der ethnische Tschetschene und georgische Staatsbürger Selimchan Changoschwili, eine mehrdeutige Biografie hat: Er führte im Tschetschenien-Krieg eine Rebellenmiliz an, für Moskau ist er ein Terrorist.
Changoschwili flüchtete 2016 nach Deutschland. Er hatte Angst um sein Leben, wie er den Behörden mitteilte. Sein Mörder kam dann auf dem Fahrrad. Der 40-Jährige wurde erschossen – hinterrücks, am helllichten Tag und mitten in Berlin. Der Verdächtige schweigt zurzeit in U-Haft. Laut Reisepass heißt er Vadim S. Der – dem Namen nach – ethnische Russe wurde im heutigen Kasachstan geboren und zog später nach Russland um. Doch die Behörden gehen von einer falschen Identität aus. Nur der Vorname stimmt. Bei Vadim S. handelt es sich „mit hoher Wahrscheinlichkeit“um Vadim K., der 2013 in Moskau einen Geschäftsmann ermordet hat. Das ergab ein Lichtbild-Abgleich. Im Juni 2015 wurde die Fahndung
Russlands nach dem Verdächtigen gelöscht. Wenige Monate später trat erstmals Vadim K. in Erscheinung. Wurde der Mörder vom Staat rekrutiert? Genauso seltsam: Vadim K. reiste über Paris mit Visum und Arbeitgeberbescheinigung nach Berlin. Er soll als „Bauingenieur“für die Firma „Zao Rust“arbeiten. Die Firma befindet sich aber in Reorganisation. Sie hatte 2018 nur einen Mitarbeiter. Und die Faxnummer führt zu zwei Firmen des russischen Verteidigungsministeriums.
Erinnerungen an Fall Skripal
Russland reagierte mit gewohnter Empörung auf die Berliner Vorwürfe. Die Reaktion Moskaus erinnert an den Fall Skripal von 2018. Damals hatte Moskau ebenfalls eine Beteiligung des GRU stets abgestritten, obwohl die Indizien der Ermittlungsbehörden erdrückend waren. Als „grundlosen und unfreundlichen Akt“bezeichnete das Außenministerium in Moskau demnach die Ausweisung der beiden russischen Diplomaten.
Wahrscheinlich ist, dass der Kreml im Gegenzug deutsche Diplomaten aus Russland ausweisen wird. Zumindest ging man in anderen Konfliktfällen so vor. Bis Mittwochnachmittag gab es keine Details. Man benötige „etwas Zeit“, erklärte Außenminister Sergej Lawrow. „Wir sind ernsthafte Menschen, zunächst studieren wir das, was man uns vorwirft“, sagte er zu Journalisten.
Russlands Chefdiplomat mag sich nun den Kopf zerbrechen, welchen gesichtswahrenden Ausweg es aus der Krise es gibt. Denn zweifellos ist sie unangenehm. Es gab auch andere, hitzige Reaktionen, die wenig zur Be
ruhigung beitragen. Der Vorsitzende des Komitees für Internationale Beziehungen in der Duma, Leonid Slutzkij, bezeichnete die Ausweisung als „Akt russophober Hysterie“. Auch Dumamitglied und Ex-Agent Andrej Lugowoj, dem London eine Beteiligung an der Vergiftung des zu den Briten übergelaufenen Nachrichtendienstlers Alexander Litwinenko zur Last legt, fühlte sich zur Stellungnahme veranlasst. Russische Geheimdienste würden sich mit Auftragsmorden nicht mehr befassen. Das seien „Fantasien“.
Keine gemeinsame Aktion der EU
Vieles erinnert also zunächst an den Fall Skripal. Auch damals bestritt Moskau jede Verantwortung und beklagte sich über Vorverurteilung durch die britische Seite. Doch anders als das deutsch-russische Verhältnis war das russisch-britische schon früher zerrüttet. Tatsächlich hatte Europa im Gleichschritt mit London mit der Ausweisung russischer Diplomaten sehr heftig reagiert. Berlin wird dem Vernehmen nach nicht die anderen EU-Länder zur Solidarität aufrufen.
Berlin hat erst mit diplomatischen Schritten reagiert, nachdem Moskau sich unkooperativ verhalten hatte, die Indizien jedoch erdrückend wurden. Kanzlerin Angela Merkel hat kein Interesse an der Eskalation, gleichwohl muss sie, um Glaubwürdigkeit zu behalten, etwas unternehmen.
Der Fall kommt zur Unzeit: Moskau hat in Berlin einen pragmatischen Fürsprecher in Europa – und Moskau wäre gut beraten, ihn nicht zu verlieren. Enge Kultur- und Wirtschaftsbeziehungen sowie Energieprojekte wie Nord Stream 2, für das sich Merkel trotz osteuropäischer Widerstände stets starkgemacht hat, verbinden beide Staaten. Berlin tritt für ein pragmatisches Verhältnis zu Russland ein und hält gleichzeitig – etwa im Ukraine-Konflikt – an europäischen Prinzipien fest. Am Montag findet in Paris zudem der Normandie-Gipfel (Deutschland, Frankreich, Russland, Ukraine) statt. Es ist das erste Treffen der vier Staats- und Regierungschefs seit Langem – und das erste Treffen des neuen ukrainischen Präsidenten, Wolodymyr Selenskij, mit Wladimir Putin. Angela Merkel könnte Kollegen und Ex-Spion Putin dort direkt fragen, was er zu den Agentenumtrieben in Berlin zu sagen hat.