Auch der Abschied von Öl und Gas macht Europa nicht unabhängig
Mit der Wende zur grünen Energie werden Europäer weniger an Ölstaaten zahlen. Abhängig bleibt die EU dennoch – nur eben von China statt Russland.
Europa muss verrückt sein. Zumindest aus russischer Perspektive. Da bauen Moskau, Ankara und Baku drei neue Pipelines, um die EU mit Erdgas zu versorgen – und Brüssel interessiert sich ausschließlich für den Abschied von fossilen Rohstoffen. Das soll nicht nur das Klima schützen, sondern auch Schluss machen mit all den politischen Verstrickungen und Abhängigkeiten von den Öl- und Gaslieferanten. Ab 2022 will die Europäische Investmentbank keinen Cent mehr in Öl- und Gasprojekte stecken. „Wenn ich Vorschläge wie diesen höre, denke ich, dass die Menschheit bald wieder in Höhlen leben wird“, höhnte der russische Präsident, Wladimir Putin.
Aus seiner Sicht ist diese absurde Reaktion verständlich. Der russische Staatsund Machtapparat lebt von den Euros, die das Land beim Verkauf von Gas an seinen Lieblingskunden im Westen verdient. Für Europas Energieversorgung birgt die Nähe zu den Gaslieferanten seit dem Bau der großen Pipelines in den 1960er-Jahren das größte geopolitische Risiko. Wie verwundbar der Kontinent ist, zeigte sich 2006 und 2009, als Streitigkeiten zwischen dem Transitland Ukraine und Russland dazu führten, dass in Teilen Osteuropas kein Gas mehr ankam. Der Winter war kalt. Menschen erfroren – mitten in Europa.
Heute, zehn Jahre danach, sieht die Welt anders aus. Über zu wenig Gas kann Europa nicht klagen. Es wird von willigen Lieferanten vielmehr bestürmt. Russland will seine Marktmacht festigen, Aserbaidschan baut sich einen eigenen Zugang gen Westen. Und die USA wollen ihr Flüssiggas so dringend in Europa verkaufen, dass sie Moskaus Nord-Stream-2-Projekt nach allen Regeln der Kunst torpedieren.
Viel wichtiger aber: In Europa haben sich die Prioritäten inzwischen verschoben. Mitte Dezember wollen die EU-Mitglieder beschließen, ab 2050 netto keine Treibhausgase mehr auszustoßen. Um das zu erreichen, müsste die Verbrennung von fossilen Rohstoffen in Heizungen oder Autos wohl bald auf ein Minimum reduziert werden. Es ist also unklar, wie viel Gas Europa tatsächlich brauchen wird. Selbst die Internationale Energieagentur, nicht gerade anfällig für grüne Fantasien, ist sich heute nicht mehr sicher, ob die Nachfrage der Europäer steigen oder sinken wird.
Staaten wie Deutschland, Hauptkunde der Russen, positionieren den Rohstoff als neuen besten Freund der Energiewende. Die Stromlieferungen von Solar- und Windkraftwerken schwanken je nach Wetter stark. Flexible Gaswerke werden als ideale Back-up-Lösung beworben. Sie können Versorgungslücken auch sehr kurzfristig schließen und belasten das Klima deutlich weniger als die Kohlekraftwerke von heute. Die Gegenseite sieht darin nur eine lästige Ablenkung von der notwendigen Energiewende – und warnt davor, sich noch enger an politisch riskante Gas-Mächte zu binden.
Tatsächlich kann der Kontinent angesichts des geplanten Rückzugs von den Fossilen fast nur gewinnen. Als großer Energie-Importeur wird die EU künftig weniger Geld an Öl- und Gaslieferanten überweisen. Sei es, weil weniger fossile Rohstoffe genutzt werden, sei es, weil deren Preis mangels Nachfrage sinkt. Im schlimmsten Fall verzögert das den Schwenk Richtung Erneuerbare ein wenig. Im besten Fall kaufen sich die Europäer damit die Zeit, um den Komplettumstieg wirklich stemmen zu können.
Ein Problem löst die Energiewende aber mit Sicherheit nicht: Das politische Risiko bei der Versorgung der Europäer verschwindet auch in einer dekarbonisierten Energiewelt nicht. Solaranlagen, Windräder und Elektroautos haben auch einen geopolitischen Preis. Nur die Konfliktherde verschieben sich – und mit ihnen die Abhängigkeit Europas. Relevant sind nicht mehr Russland und die Golfregion, sondern Länder, in denen seltene Erden abgebaut werden, die zum Bau der grünen Technik gebraucht werden.
Als der Quasi-Monopolist China den Export der seltenen Erden 2008 plötzlich limitierte, ging der Preis durch die Decke. Die Krisenregion Kongo ist wiederum entscheidend für die Versorgung mit dem wichtigen Mineral Kobalt. Kommt es hier zu Lieferengpässen, wird der Bau neuer Ökostromanlagen schwierig.
Wer weiß: Vielleicht wird sich Europa über seine neuen Pipelines noch einmal sehr freuen.