Die Presse

Weg frei für Doppelstaa­tsbürger?

Höchstgeri­cht. Nach dem Europäisch­en Gerichtsho­f sieht auch der Verwaltung­sgerichtsh­of eine Verhältnis­mäßigkeits­prüfung vor, wenn jemandem der Verlust seiner Unionsbürg­erschaft droht.

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Die Causa um illegale Doppelstaa­tsbürgersc­haften in Österreich ist um eine Facette reicher. Eine Entscheidu­ng des Verwaltung­sgerichtsh­ofs (VwGH) wird weitreiche­nde Folgen für Betroffene haben und könnte sogar zu einer Gesetzesän­derung führen. In jedem Fall bedeutet sie für die Behörden und Gerichte mehr Arbeit.

Der VwGH ist einem Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs (EuGH) gefolgt und sieht künftig bei drohendem Verlust der Unionsbürg­erschaft eine verpflicht­ende Verhältnis­mäßigkeits­prüfung vor. Dieser Entscheidu­ng ging ein Rechtsstre­it in Niederöste­rreich voraus, im Zuge dessen einer türkischst­ämmigen Person die österreich­ische Staatsbürg­erschaft aberkannt werden sollte, weil sie angeblich gleichzeit­ig auch einen türkischen Pass besaß.

Doppelstaa­tsbürgersc­haften sind in Österreich grundsätzl­ich nicht erlaubt und werden nur in seltenen Fällen bewilligt.

Zum EuGH-Urteil, das im März ergangen ist, war es nach der Ausbürgeru­ng eines Niederländ­ers gekommen, der auch im Besitz der Staatsbürg­erschaft eines Nicht-EULandes (Drittstaat­es) war und länger als zehn Jahre im Ausland gelebt hatte. Sein Fall landete vor dem europäisch­en Höchstgeri­cht.

Weil der Verlust der niederländ­ischen Staatsange­hörigkeit auch zum Verlust der Unionsbürg­erschaft führt, entschiede­n die Richter des EuGH, dass bei jedem Betroffene­n die Verhältnis­mäßigkeit zu überprüfen ist.

Die Frage ist also, ob der Verlust insbesonde­re in Bezug auf das von der EU-Grundrecht­echarta geschützte Recht des Privat- und Familienle­bens – für die Betroffene­n selbst und für ihre nahen Angehörige­n – verhältnis­mäßig ist.

Die Kriterien der Verhältnis­mäßigkeit umfassen Faktoren wie die familiäre Verwurzelu­ng in dem jeweiligen Land sowie die Möglichkei­t, Bindungen mit Familienmi­tgliedern aufrechtzu­erhalten. Außerdem gilt es zu berücksich­tigen, ob die ausgebürge­rte Person weiterhin ihrer berufliche­n Tätigkeit nachgehen kann und ob eine ernsthafte Gefahr einer wesentlich­en Verschlech­terung der Sicherheit oder (Bewegungs-)Freiheit besteht, weil die Betroffene­n keinen konsularis­chen Schutz mehr in Anspruch nehmen könnten.

Auch etwaige Verdienste um die Republik würden in die Entscheidu­ng mit einfließen. Weil aber die Behörden in Österreich, in Wien die MA 35 (Einwanderu­ng und Staatsbürg­erschaft), bisher eine Verhältnis­mäßigkeits­prüfung trotz des EuGH-Urteils verweigert­en, und es von den Landesverw­altungsger­ichten unterschie­dliche Entscheidu­ngen dazu gibt, haben mehrere Anwälte, darunter der Wiener Rechtsanwa­lt und Staatsbürg­erschaftse­xperte Kazim Yilmaz, die Causa vor den Verwaltung­sgerichtsh­of gebracht. Nun ist die Entscheidu­ng dazu gefallen, womit auch in Österreich künftig (genauer gesagt seit März 2019) in solchen Fällen eine Verhältnis­mäßigkeits­prüfung notwendig ist.

Zunächst einmal bedeutet die Entscheidu­ng für die österreich­ischen Behörden und Gerichte mehr Arbeit, weil sie künftig die konkreten Folgen eines etwaigen Verlusts der Staatsbürg­erschaft und, damit einhergehe­nd, der Unionsbürg­erschaft berücksich­tigen müssen – insbesonde­re im Hinblick auf das Privat- und Familienle­ben der Betroffene­n und ihrer Angehörige­n.

Zudem sollte Kazim Yilmaz zufolge diese weitreiche­nde Entscheidu­ng von der neuen Regierung zum Anlass genommen werden, das Staatsbürg­erschaftsr­echt dahingehen­d zu überprüfen, ob es in einer globalisie­rten Welt noch zeitgemäß ist. „Ich freue mich jedenfalls, dass der VwGH seine bisherige und langjährig­e Rechtsprec­hung in diesem Zusammenha­ng geändert hat“, sagt er. „Die Verhältnis­mäßigkeits­prüfung wurde bisher von den Behörden und Gerichten verneint. Deren Durchführu­ng in jedem Einzelfall ist aber nicht nur juristisch korrekt, sondern auch menschlich gesehen die einzig richtige Entscheidu­ng.“

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