„Die letzte Chance für Carrie Lam“
Proteste in Hongkong. Seit Monaten hat die Polizei erstmals wieder eine Demonstration genehmigt. Die Bevölkerung steht größtenteils noch immer hinter der Protestbewegung.
Der riesige Menschenzug vom Victoria Park ist ein beeindruckender Beleg des gesellschaftlichen Rückhalts: So viele Hongkonger wie seit Wochen nicht mehr sind an diesem Sonntag auf die Straße gezogen, um ihre Unterstützung für die Demokratiebewegung zu zeigen.
Die Polizei sprach von 183.000 Teilnehmern, die Organisatoren gehen gar von 800.000 Demonstranten aus. Diese stammen querbeet durch alle Generationen und Gesellschaftsschichten: schwarz vermummte Demonstranten, Familien mit Kleinkindern, ältere Menschen mit Gehstöcken. Bis kurz vor Redaktionsschluss sind die Proteste am Sonntag friedlich verlaufen. Jedoch haben Sicherheitskräfte kurz vor Beginn der Veranstaltung elf Aktivisten verhaftet und mehrere Waffen sichergestellt, darunter auch eine scharfe Pistole mit über 100 Patronen.
Seit fast auf den Tag genau sechs Monaten bestimmt die anhaltende Protestbewegung bereits den Alltag der asiatischen Finanzmetropole. Nach gewalttätigen Ausschreitungen – sowohl von Seiten der Sicherheitskräfte als auch von radikalen Aktivisten – hatte sich die Lage durch die Kommunalwahlen von letztem Sonntag zunächst beruhigt. Damals konnte das pro-demokratische Lager einen beeindruckenden Erdrutschsieg für sich proklamieren.
Doch der dahinterliegende Konflikt scheint weit von einer Lösung entfernt: Von der Pekingloyalen Verwaltungschefin Carrie Lam haben die Demonstranten schließlich bisher keine neuen Zugeständnisse erhalten. Es ist, als würden sie gegen eine stumme Wand schreien. Doch wirtschaftlich hat der Protest die Finanzmetropole in die erste schwerwiegende Rezession seit zehn Jahren geführt.
Genehmigte Demonstration
Ein Rückblick: Ausgelöst wurde der Protest durch ein umstrittenes Auslieferungsgesetz, das die Lokalregierung geplant hat. Demnach sollten künftig straffällige Hongkonger nach Festlandchina überführt werden können. Für die Zivilgesellschaft der Sonderverwaltungszone bedeutete dies einen fundamentalen Grenzübertritt, schließlich fürchtete sie, unter dem Vorwand des Strafgesetzes mundtot gemacht zu werden.
Auch wenn das Gesetz letztlich gekippt wurde: Die Angst vor der Aushöhlung der Freiheiten durch Peking ist nach wie vor präsent. Bis zum Jahr 2047 – ein halbes Jahrhundert nach der Rückgabe der britischen Kolonie an China – wurde den rund sieben Millionen Hongkongern Sonderrechte versprochen, die die Bevölkerung in Festlandchina nicht genießt. Dazu zählen unter anderem die weitgehende Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Zuletzt jedoch haben die Parteikader in Peking ihren Machtanspruch auf Hongkong zunehmend demonstrativ zur Schau gestellt.
Der Marsch am Sonntag ist der erste seit August, den die Polizei den Organisatoren der Civil Human Rights Front genehmigt hat. Die Sicherheitskräfte kündigten zugleich an, Gewalt seitens der Demonstranten nicht zu tolerieren. Die Organisatoren haben die Demonstration als „letzte Chance“für Carrie Lam betitelt. Fünf Forderungen stellen die Aktivisten gegenüber der Lokalregierung – darunter auch freie Wahlen ihrer politischen Vertretung. Bisher müssen die Kandidaten für den Posten des Verwaltungschefs de facto von Peking genehmigt werden.
„Demütig Kritik akzeptieren“
Noch im Dezember wird Carrie Lam nach Peking reisen, wo sie sich auch mit der Parteiführung der Kommunistischen Partei über Strategien gegenüber der Protestbewegung beraten wird. Auf substanzielle Zugeständnisse kann das pro-demokratische Lager nicht hoffen: Am Samstag sagte Carrie Lam auf einer Pressekonferenz, dass sie „bereits viele Male auf die Forderungen der Demonstranten geantwortet“habe: „Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen.“
Gleichzeitig jedoch ist sowohl Carrie Lam als auch die Kommunistische Partei in Peking darauf bedacht, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen. Am Samstag etwa gab die Hongkonger Lokalregierung in einer Stellungnahme bekannt, dass sie „ihre Lektionen gelernt“habe und „demütig Kritik akzeptieren“werde.