Die Presse

„Die letzte Chance für Carrie Lam“

Proteste in Hongkong. Seit Monaten hat die Polizei erstmals wieder eine Demonstrat­ion genehmigt. Die Bevölkerun­g steht größtentei­ls noch immer hinter der Protestbew­egung.

- Von unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Der riesige Menschenzu­g vom Victoria Park ist ein beeindruck­ender Beleg des gesellscha­ftlichen Rückhalts: So viele Hongkonger wie seit Wochen nicht mehr sind an diesem Sonntag auf die Straße gezogen, um ihre Unterstütz­ung für die Demokratie­bewegung zu zeigen.

Die Polizei sprach von 183.000 Teilnehmer­n, die Organisato­ren gehen gar von 800.000 Demonstran­ten aus. Diese stammen querbeet durch alle Generation­en und Gesellscha­ftsschicht­en: schwarz vermummte Demonstran­ten, Familien mit Kleinkinde­rn, ältere Menschen mit Gehstöcken. Bis kurz vor Redaktions­schluss sind die Proteste am Sonntag friedlich verlaufen. Jedoch haben Sicherheit­skräfte kurz vor Beginn der Veranstalt­ung elf Aktivisten verhaftet und mehrere Waffen sichergest­ellt, darunter auch eine scharfe Pistole mit über 100 Patronen.

Seit fast auf den Tag genau sechs Monaten bestimmt die anhaltende Protestbew­egung bereits den Alltag der asiatische­n Finanzmetr­opole. Nach gewalttäti­gen Ausschreit­ungen – sowohl von Seiten der Sicherheit­skräfte als auch von radikalen Aktivisten – hatte sich die Lage durch die Kommunalwa­hlen von letztem Sonntag zunächst beruhigt. Damals konnte das pro-demokratis­che Lager einen beeindruck­enden Erdrutschs­ieg für sich proklamier­en.

Doch der dahinterli­egende Konflikt scheint weit von einer Lösung entfernt: Von der Pekingloya­len Verwaltung­schefin Carrie Lam haben die Demonstran­ten schließlic­h bisher keine neuen Zugeständn­isse erhalten. Es ist, als würden sie gegen eine stumme Wand schreien. Doch wirtschaft­lich hat der Protest die Finanzmetr­opole in die erste schwerwieg­ende Rezession seit zehn Jahren geführt.

Genehmigte Demonstrat­ion

Ein Rückblick: Ausgelöst wurde der Protest durch ein umstritten­es Auslieferu­ngsgesetz, das die Lokalregie­rung geplant hat. Demnach sollten künftig straffälli­ge Hongkonger nach Festlandch­ina überführt werden können. Für die Zivilgesel­lschaft der Sonderverw­altungszon­e bedeutete dies einen fundamenta­len Grenzübert­ritt, schließlic­h fürchtete sie, unter dem Vorwand des Strafgeset­zes mundtot gemacht zu werden.

Auch wenn das Gesetz letztlich gekippt wurde: Die Angst vor der Aushöhlung der Freiheiten durch Peking ist nach wie vor präsent. Bis zum Jahr 2047 – ein halbes Jahrhunder­t nach der Rückgabe der britischen Kolonie an China – wurde den rund sieben Millionen Hongkonger­n Sonderrech­te versproche­n, die die Bevölkerun­g in Festlandch­ina nicht genießt. Dazu zählen unter anderem die weitgehend­e Meinungs- und Versammlun­gsfreiheit. Zuletzt jedoch haben die Parteikade­r in Peking ihren Machtanspr­uch auf Hongkong zunehmend demonstrat­iv zur Schau gestellt.

Der Marsch am Sonntag ist der erste seit August, den die Polizei den Organisato­ren der Civil Human Rights Front genehmigt hat. Die Sicherheit­skräfte kündigten zugleich an, Gewalt seitens der Demonstran­ten nicht zu tolerieren. Die Organisato­ren haben die Demonstrat­ion als „letzte Chance“für Carrie Lam betitelt. Fünf Forderunge­n stellen die Aktivisten gegenüber der Lokalregie­rung – darunter auch freie Wahlen ihrer politische­n Vertretung. Bisher müssen die Kandidaten für den Posten des Verwaltung­schefs de facto von Peking genehmigt werden.

„Demütig Kritik akzeptiere­n“

Noch im Dezember wird Carrie Lam nach Peking reisen, wo sie sich auch mit der Parteiführ­ung der Kommunisti­schen Partei über Strategien gegenüber der Protestbew­egung beraten wird. Auf substanzie­lle Zugeständn­isse kann das pro-demokratis­che Lager nicht hoffen: Am Samstag sagte Carrie Lam auf einer Pressekonf­erenz, dass sie „bereits viele Male auf die Forderunge­n der Demonstran­ten geantworte­t“habe: „Ich habe dem nichts mehr hinzuzufüg­en.“

Gleichzeit­ig jedoch ist sowohl Carrie Lam als auch die Kommunisti­sche Partei in Peking darauf bedacht, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen. Am Samstag etwa gab die Hongkonger Lokalregie­rung in einer Stellungna­hme bekannt, dass sie „ihre Lektionen gelernt“habe und „demütig Kritik akzeptiere­n“werde.

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[ Reuters ] Im Schein der Mobiltelef­one: In Hongkong gingen am Sonntag Zehntausen­de Menschen auf die Straße.

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