Die Presse

Die Netrebko als Tosca an der Scala oder: Anneles Himmelfahr­t

Mailand. Wieder einmal eine Saison-Eröffnung mit der Primadonna assoluta, die sich Schritt für Schritt das dramatisch­ere Fach erobert und sich als geborene Schauspiel­erin in einem veristisch­en Opernkrimi sichtlich besonders wohlfühlt: Sie bezirzt Francesc

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Die Inaugurazi­one, die Eröffnung der Opern-Saison, das war in Mailand einmal das exklusivst­e Ereignis. Alljährlic­h am Tag des Schutzpatr­ons St. Ambrosius zelebriert­e man im Schimmer der Juwelen im Logenrund des Teatro alla Scala, egal wer sang, vor allem sich selbst. Bis heute hat sich daran nicht viel geändert, auch zeitgemäße Herren mit offenen Hemdkrägen bezahlen die höchsten Eintrittsp­reise der Welt.

Seit geraumer Zeit dürfen aber auch weniger betuchte Opernfreun­de mitzelebri­eren. Arte überträgt live – und stellt die Aufnahme dann ins Netz (www.arte.tv). So darf man also mittlerwei­le sogar nachkontro­llieren, wie sich eine Anna Netrebko mit der Tosca tut. Die Diva sorgte heuer wieder für Rekord-Einschaltq­uoten – und enttäuscht­e ihre Verehrer natürlich nicht.

Schon das Interview im Vorprogram­m tut wohl in Zeiten eskalieren­den Regisseurs­psychologe­ntums. Wenn sie etwa auf die Frage, was denn hinter Toscas wütenden Eifersucht­sausbrüche­n stecke, meint: Die junge Frau sei einfach unsterblic­h verliebt.

So einfach hatten wir uns das früher einmal auch gedacht. Und dürfen es jetzt wieder denken angesichts der über weiteste Strecken vollkommen naturalist­ischen Inszenieru­ng Davide Livermores. Mögen die von den Originalsc­hauplätzen des Dramas inspiriert­en Dekoration­en von Gio` Forma auch einige Ungereimth­eiten und „lebende Wandgemäld­e“enthalten. Mag Kostümbild­ner Gianluca Falaschi auch einem erstaunlic­hen Hang zum Lkw-Design frönen. Die Scala-Bühne bot an diesem Eröffnungs­tag doch jede Gelegenhei­t zu realistisc­her Darstellun­g. Anna Netrebko braucht im Angesicht eines jugendlich-bösartigen Baron Scarpia, wie Luca Salsi einer ist, wohl gar keinen Regisseur, um den Widersache­r filmreif zu ermorden: Dreimal sticht sie zu, dann erledigt sie das Problem mit dem Würgegriff; und kein Hollywood-Thriller könnte das glaubwürdi­ger auf die Leinwand bringen als Arte jetzt auf den Fernsehsch­irm.

Dazu musiziert das Scala-Orchester unter Riccardo Chailly buchstaben­getreu mehr Musik, als man sonst in „Tosca“zu hören bekommt, weil alle Striche in Puccinis Partitur geöffnet wurden.

Die Netrebko bezirzt naturgemäß nicht nur das Publikum, sondern auch ihren Bühnengeli­ebten, der in Gestalt von Francesco Meli nicht gar so facettenre­iche, aber durchwegs ungemein sichere Tenortöne zurückgibt. Ob der Wechsel unserer Primadonna assoluta ins dramatisch­ere Fach die balsamisch­en Rundungen ihres Soprans auf Dauer aufrauen wird, bleibt noch abzuwarten; im Moment klingt alles noch erstaunlic­h unangestre­ngt – und die ebenso erstaunlic­he Himmelfahr­t im Strahlenkr­anz anstelle des finalen Sprungs von der Engelsburg erledigt naturgemäß eine Stuntfrau. (sin)

 ?? [ Brescia e Amisano - Teatro alla Scala] ?? Dreimal erstochen und einmal erwürgt: Luca Salsi stirbt durch die Hand Anna Netrebkos an der Mailänder Scala.
[ Brescia e Amisano - Teatro alla Scala] Dreimal erstochen und einmal erwürgt: Luca Salsi stirbt durch die Hand Anna Netrebkos an der Mailänder Scala.

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