Wie kam es zum Brexit?
Politik in der Literatur. Von Julian Barnes bis John le Carre,´ von Ian McEwan bis Ali Smith: Sechs Romane helfen, die Umstände besser zu verstehen, die zum Brexit führten.
Sechs Romane die helfen, die Umstände zu verstehen, die zum Brexit führten.
Die Briten, berichten Kollegen aus dem Vereinigten Königreich, haben den Brexit satt: egal, ob sie am 23. Juni vor drei Jahren für oder gegen den Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union gestimmt haben. Man ist des Themas müde. Man wünscht sich, dass es einfach weggeht, verschwindet, aus dem Fernsehen, dem Radio, den Zeitungen. Über den Brexit will man nicht mehr reden.
Aber vielleicht lesen? Genauer gefasst: Wäre es nicht erhellend, sich anzuschauen, was britischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen zu diesem Problem einfällt? Denn oft spüren Literaten leise Grundstimmungen in Gesellschaften auf, bevor die Soziologen, Politologen, Ökonomen und Nachrichtenjournalisten diese auflesen und aus einem murmelnden Basso continuo ein laut donnerndes Leitmotiv wird.
Also begab sich „Die Presse“an jenem 19. Oktober, als Premierminister Boris Johnson erneut scheiterte, im House of Commons von Westminster eine Mehrheit für das rasche Verlassen der EU zu gewinnen, auf eine Lesereise durch Brexitland. Einige der bekanntesten britischen Schriftsteller haben sich dieses Themas bereits angenommen: John le Carre´ in seinem neuesten Spionagethriller „Agent Running in the Field“ebenso wie Ian McEwan in der bitterbösen Kafka-Adaption „The Cockroach“; Ali Smith in ihrem unmittelbar nach dem Referendum veröffentlichten Roman „Autumn“, der zwischen Traum und Wirklichkeit hin- und herspringt, genauso wie Amanda Craig, deren
Beziehungsthriller „The Lie of the Land“ein seelisches Landschaftsgemälde Englands vor der Volksabstimmung malt.
Denn es geht beim Brexit um England, nicht um das gesamte Vereinigte Königreich. Das ist die erste von drei großen Lehren, die man aus diesem halben Dutzend meisterhafter Romane ziehen kann. Der Brexit ist ein englisches Problem; an ihm entzündete sich jener englische Patriotismus, den zu forcieren es keinen Anlass gab, solang man sich noch dem Irrglauben hingeben konnte, dass Britannien (oder eher: „Britannien“) auch nach der Schmach der Suezkrise im Jahr 1956 „die Wellen regiert“. Wo man seine patriotischen, nationalistischen oder chauvinistischen Impulse nicht mehr auf ein Weltreich projizieren kann, lockt der Rückzug in eine ahistorische, verkitschte Idee von England: Das hat Julian Barnes schon 1998 in seiner Satire „England, England“in grotesker Pracht dargestellt.
Zweitens vertieft dieser lange Zeit unterdrückte englische Nationalismus jene gesellschaftlichen Gräben, die es überall in Europa gibt: zwischen Stadt und Land, zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern, zwischen Jung und Alt. Ein Franzose kann, ob links oder rechts oder liberal, problemlos die Liebe zu Frankreich bekunden. In England hingegen hat der Brexit ein Ventil des Ressentiments geöffnet, das sich schwer wieder schließen lässt.
Und das vergiftet, drittens, die Diskussionskultur noch viel mehr als anderswo in Europa. Um Ali Smith zu zitieren: „Überall im Land zerbrach das Land in Stücke. Überall im Land trieben die Länder weg.“