Wo sich die britische Wahlschlacht entscheidet
Analyse. In den Umfragen liegen die Tories von Premier Johnson voran. Am Ende geben die Stimmen im ehemals roten Norden den Ausschlag.
Siegesgewissheit wollte Boris Johnson bis zum Schluss nicht aufkommen lassen. Obwohl seine Konservativen auch in den letzten Umfragen vor der Unterhauswahl mit neun Prozentpunkten klar in Führung lagen, warnte der Premier bis zuletzt: „Diese Wahl ist viel enger, als alle glauben. Wir kämpfen um jede Stimme.“Um eine Mehrheit bangen muss Johnson wohl nicht. Aber wegen des britischen Wahlsystems war bis zum Schluss eine exakte Prognose schwierig.
Gewählt wird am Donnerstag in 650 Wahlkreisen, davon 533 in England, 59 in Schottland, 40 in Wales und 18 in Nordirland. Bei den letzten Unterhauswahlen 2017 hatte Johnsons Vorgängerin Theresa May mit 318 Sitzen das für eine Mehrheit erforderliche Quorum von 326 knapp verfehlt. Sie war auf Unterstützung der nordirischen Unionisten angewiesen.
Das will Johnson unter allen Umständen vermeiden. Ein neuerliches Patt werde nur „Zaudern und Zögern“bringen, während er einen „ofenfertigen Brexit-Deal“anzubieten habe. Da sein Abkommen von den Unionisten abgelehnt wird, kann er von ihnen keine Unterstützung mehr erwarten. Mit der Umwandlung der Konservativen in die wahre Brexit Party und der Verdrängung aller moderaten Kräfte muss Johnson im Gegensatz zu May auch keine Palastrevolten mehr fürchten.
Um den Brexit umzusetzen, wie er unablässig versprach, braucht er indessen klare Verhältnisse. Die wichtigsten Parameter für die Wahl:
Geografie
In den traditionellen Hochburgen der oppositionellen Labour Party von den Midlands bis nach Yorkshire gibt es 50 Sitze, von denen 39 in der Volksabstimmung 2016 für den Brexit stimmten. In 16 sprachen sich sogar mehr als 60 Prozent für den EU-Austritt aus. Sie standen im Mittelpunkt des Buhlens der Konservativen. Ein Sieg in Orten wie Darlington, Bishop Auckland oder Wrexham, die seit Generationen Labour gewählt haben, scheinen dieses Mal für die Tories zum Greifen nah.
Die erhofften Zugewinne im Norden sollten für Johnson Verluste unter pro-europäischen Wählern in Südengland kompensieren. Schottland hat in der EU-Volksabstimmung mit 62 Prozent für den Verbleib in der Union gestimmt, die dezidiert pro-europäische Scottish National Party wird erneut einen klaren Erfolg feiern. Ebenso hat Johnson in der Metropole London wenig zu erhoffen, 59,9 Prozent stimmten hier 2016 gegen den Brexit. Dass die Konservativen aber in beiden Fällen die gefürchtete Vernichtung zu vermeiden scheinen können, liegt auch an den beiden anderen Faktoren, die für die Wahl entscheidend sein werden.
Demografie
Während es Johnson gelungen ist, das Lager der EU-Gegner
hinter sich zu sammeln, sind die EU-Befürworter gespalten: Nach der YouGov-Umfrage von Mittwoch wollten 71 Prozent der Brexit-Befürworter die Tories wählen. Die Gruppe der Brexit-Gegner zerfiel dagegen in 48 Prozent für Labour und 24 Prozent für die Liberaldemokraten. Bemerkenswert: Auch 18 Prozent der Brexit-Gegner wollten für Johnson stimmen.
Klare Unterschiede blieben in Alter und Klasse bestehen: Fast 60 Prozent der 18- bis 24-Jährigen wollten Labour wählen, während unter den Pensionisten über 65 Jahre der Vorsprung der Konservativen bei 50 Prozentpunkten lag. Zugleich hat sich soziologisch eine massive Verschiebung ergeben: Während in der Ober- und Mittelklasse die Tories eine Fünf-Prozent-Führung haben, liegen sie in der Unterschicht und der Arbeiterklasse um 17 Punkte voran. Politologe Matthew Goodwin analysiert „eine Kräfteverschiebung, die massive Folgen für die Regierungspolitik von Johnson haben könnte“.
Ideologie
Eines erweist sich schon vor dem Wahltag als entscheidender Fehler von Labour: Die Partei versprach einen radikalen Linksruck für ein Publikum, das dafür weder bereit noch vorhanden war. Dabei hätte man aus der Vergangenheit lernen können: Bei der Wahl 2015 rückte Labour nach links und verlor. 2017 ging die Partei noch weiter nach links und verlor wieder – allerdings in geringerem Ausmaß, was sie beinahe wie einen Sieg feierte. 2019 schließlich driftete Labour noch radikaler nach links. Tony Blair, der frühere Labour-Premier, konstatierte: „Das Problem mit Revolutionen ist nicht, wie man sie anfängt, sondern wie man sie beendet.“Politologe Goodwin meint: „Labour hat Ideologie über Wählbarkeit gestellt“. Parteichef Jeremy Corbyn würde den gesellschaftlichen Umbau als „Langzeitprojekt sehen, bei dem Rückschläge unvermeidlich“seien.
Umso einfacher – und effektiver – warb Johnson mit einer einzigen Kernbotschaft: „Get Brexit done“– den Brexit umsetzen, obwohl auch nach seiner Wahl viele Fragen offen bleiben werden. Jüngst parodierte er in einem Videoclip sogar die Weihnachtsfilmschnulze „Love Actually“, auf handgeschriebenen Schildern buhlte er: „Mit ein wenig Glück werden wir bis nächstes Jahr den Brexit erledigt haben.“Der Hauptdarsteller des Films und Pro-EUAktivist Hugh Grant erinnerte freilich daran, dass Johnson eine Karte weggelassen habe: „Zu Weihnachten sagt man die Wahrheit.“