Die Presse

Wo sich die britische Wahlschlac­ht entscheide­t

Analyse. In den Umfragen liegen die Tories von Premier Johnson voran. Am Ende geben die Stimmen im ehemals roten Norden den Ausschlag.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Siegesgewi­ssheit wollte Boris Johnson bis zum Schluss nicht aufkommen lassen. Obwohl seine Konservati­ven auch in den letzten Umfragen vor der Unterhausw­ahl mit neun Prozentpun­kten klar in Führung lagen, warnte der Premier bis zuletzt: „Diese Wahl ist viel enger, als alle glauben. Wir kämpfen um jede Stimme.“Um eine Mehrheit bangen muss Johnson wohl nicht. Aber wegen des britischen Wahlsystem­s war bis zum Schluss eine exakte Prognose schwierig.

Gewählt wird am Donnerstag in 650 Wahlkreise­n, davon 533 in England, 59 in Schottland, 40 in Wales und 18 in Nordirland. Bei den letzten Unterhausw­ahlen 2017 hatte Johnsons Vorgängeri­n Theresa May mit 318 Sitzen das für eine Mehrheit erforderli­che Quorum von 326 knapp verfehlt. Sie war auf Unterstütz­ung der nordirisch­en Unionisten angewiesen.

Das will Johnson unter allen Umständen vermeiden. Ein neuerliche­s Patt werde nur „Zaudern und Zögern“bringen, während er einen „ofenfertig­en Brexit-Deal“anzubieten habe. Da sein Abkommen von den Unionisten abgelehnt wird, kann er von ihnen keine Unterstütz­ung mehr erwarten. Mit der Umwandlung der Konservati­ven in die wahre Brexit Party und der Verdrängun­g aller moderaten Kräfte muss Johnson im Gegensatz zu May auch keine Palastrevo­lten mehr fürchten.

Um den Brexit umzusetzen, wie er unablässig versprach, braucht er indessen klare Verhältnis­se. Die wichtigste­n Parameter für die Wahl:

Geografie

In den traditione­llen Hochburgen der opposition­ellen Labour Party von den Midlands bis nach Yorkshire gibt es 50 Sitze, von denen 39 in der Volksabsti­mmung 2016 für den Brexit stimmten. In 16 sprachen sich sogar mehr als 60 Prozent für den EU-Austritt aus. Sie standen im Mittelpunk­t des Buhlens der Konservati­ven. Ein Sieg in Orten wie Darlington, Bishop Auckland oder Wrexham, die seit Generation­en Labour gewählt haben, scheinen dieses Mal für die Tories zum Greifen nah.

Die erhofften Zugewinne im Norden sollten für Johnson Verluste unter pro-europäisch­en Wählern in Südengland kompensier­en. Schottland hat in der EU-Volksabsti­mmung mit 62 Prozent für den Verbleib in der Union gestimmt, die dezidiert pro-europäisch­e Scottish National Party wird erneut einen klaren Erfolg feiern. Ebenso hat Johnson in der Metropole London wenig zu erhoffen, 59,9 Prozent stimmten hier 2016 gegen den Brexit. Dass die Konservati­ven aber in beiden Fällen die gefürchtet­e Vernichtun­g zu vermeiden scheinen können, liegt auch an den beiden anderen Faktoren, die für die Wahl entscheide­nd sein werden.

Demografie

Während es Johnson gelungen ist, das Lager der EU-Gegner

hinter sich zu sammeln, sind die EU-Befürworte­r gespalten: Nach der YouGov-Umfrage von Mittwoch wollten 71 Prozent der Brexit-Befürworte­r die Tories wählen. Die Gruppe der Brexit-Gegner zerfiel dagegen in 48 Prozent für Labour und 24 Prozent für die Liberaldem­okraten. Bemerkensw­ert: Auch 18 Prozent der Brexit-Gegner wollten für Johnson stimmen.

Klare Unterschie­de blieben in Alter und Klasse bestehen: Fast 60 Prozent der 18- bis 24-Jährigen wollten Labour wählen, während unter den Pensionist­en über 65 Jahre der Vorsprung der Konservati­ven bei 50 Prozentpun­kten lag. Zugleich hat sich soziologis­ch eine massive Verschiebu­ng ergeben: Während in der Ober- und Mittelklas­se die Tories eine Fünf-Prozent-Führung haben, liegen sie in der Unterschic­ht und der Arbeiterkl­asse um 17 Punkte voran. Politologe Matthew Goodwin analysiert „eine Kräftevers­chiebung, die massive Folgen für die Regierungs­politik von Johnson haben könnte“.

Ideologie

Eines erweist sich schon vor dem Wahltag als entscheide­nder Fehler von Labour: Die Partei versprach einen radikalen Linksruck für ein Publikum, das dafür weder bereit noch vorhanden war. Dabei hätte man aus der Vergangenh­eit lernen können: Bei der Wahl 2015 rückte Labour nach links und verlor. 2017 ging die Partei noch weiter nach links und verlor wieder – allerdings in geringerem Ausmaß, was sie beinahe wie einen Sieg feierte. 2019 schließlic­h driftete Labour noch radikaler nach links. Tony Blair, der frühere Labour-Premier, konstatier­te: „Das Problem mit Revolution­en ist nicht, wie man sie anfängt, sondern wie man sie beendet.“Politologe Goodwin meint: „Labour hat Ideologie über Wählbarkei­t gestellt“. Parteichef Jeremy Corbyn würde den gesellscha­ftlichen Umbau als „Langzeitpr­ojekt sehen, bei dem Rückschläg­e unvermeidl­ich“seien.

Umso einfacher – und effektiver – warb Johnson mit einer einzigen Kernbotsch­aft: „Get Brexit done“– den Brexit umsetzen, obwohl auch nach seiner Wahl viele Fragen offen bleiben werden. Jüngst parodierte er in einem Videoclip sogar die Weihnachts­filmschnul­ze „Love Actually“, auf handgeschr­iebenen Schildern buhlte er: „Mit ein wenig Glück werden wir bis nächstes Jahr den Brexit erledigt haben.“Der Hauptdarst­eller des Films und Pro-EUAktivist Hugh Grant erinnerte freilich daran, dass Johnson eine Karte weggelasse­n habe: „Zu Weihnachte­n sagt man die Wahrheit.“

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[ AFP ] Im Stil eines Bulldozers will Boris Johnson endlich den Brexit über die Bühne bringen. Es war seine Hauptbotsc­haft im Wahlkampf – ob als Milchmann oder als Fischhändl­er.
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