Ohne Mehrheit kein reibungsloser Brexit
Je nach Wahlergebnis wird der Brexit geliefert, verzögert oder sogar abgesagt.
Die wenigen Wochen Pause, in denen der EUAustritt Großbritanniens kein Thema war, neigen sich ihrem Ende zu. Mit der britischen Unterhauswahl am Donnerstag beginnt die nächste entscheidende Phase. Der Brexit könnte je nach Mehrheitsverhältnissen vollzogen, verschoben oder abgeblasen werden. Ein Hard-Brexit bleibt als Risiko bestehen. „Die Presse“skizziert die drei möglichen Nachwahl-Szenarien.
1 Die Tories erringen eine Mehrheit im Unterhaus
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Tories bei dieser Wahl eine Mehrheit im Unterhaus erringen. Damit wäre der Weg frei für den EU-Austritt am 31. Jänner 2020. Denn anders als bisher finden sich unter den konservativen Mandataren keine Befürworter einer engen Anbindung an die EU mehr – die moderaten Tories wurden aus der Partei entfernt. Die von proeuropäischen Elementen gesäuberten Tories stehen geschlossen hinter dem Kurs von Boris Johnson. Das Votum für den Brexit-Deal dürfte angesichts einer konservativen Mehrheit eine Formalität sein.
Doch was kommt danach? Der Premierminister in spe hat zwei sich gegenseitig ausschließende Versprechen abgegeben. Erstens: Die Übergangsperiode nach dem Brexit, während der Großbritannien an den EU-Binnenmarkt gekoppelt ist (mit allen damit verbundenen Verpflichtungen), wird nicht verlängert und endet am 31. Dezember 2020. Und zweitens: Bis dahin fixieren London und Brüssel ein umfassendes Freihandelsabkommen, das 2021 in Kraft tritt.
Fangen wir mit dem zweiten Versprechen an. Daran, dass ein breiter Deal bis Jahresende vereinbart werden kann, glaubt niemand, der mit der Materie auch nur ansatzweise vertraut ist. Hinzu kommt, dass das Prozedere nach dem Brexit anders sein wird: Nicht nur Rat und EU-Parlament müssen einem Abkommen zustimmen, sondern auch alle nationalen und einige regionale Parlamente in den 27 Mitgliedstaaten. Derartige Ratifizierungsprozesse dauern Monate – und wenn die Materie so heikel ist wie das zukünftige Verhältnis zu einem Ex-Mitglied, dann möglicherweise Jahre.
Logische Konsequenz: Wenn Johnson nicht bis Sommer 2020 um eine Verlängerung der Übergangsfrist ansucht, dann gibt es zu Jahresbeginn 2021 entweder gar keinen umfassenden Folgevertrag – was dem berüchtigten „harten“Brexit entsprechen würde –, oder nur ein rudimentäres Abkommen, das primär der EU nutzt, weil es mangels Verhandlungszeit nur das (relativ unkomplizierte) Feld der Warenzölle abdeckt – und im Warenhandel mit den Briten verzeichnen die EU-27 einen Bilanzüberschuss.
Der Austritt aus der EU ändert nichts an der Tatsache, dass die Union der mit Abstand wichtigste Handelspartner Großbritanniens ist. Will Johnson das Risiko eines Post-Brexit-Crashs vermeiden, wird er sein Versprechen brechen und um Aufschub ansuchen müssen. Ob er das dafür notwendige politische Kapital hat, muss sich noch weisen.
2 Keine Partei schafft eine ausreichende Mehrheit
Weniger wahrscheinlich aber möglich ist, dass Boris Johnson und seine konservative Partei keine ausreichende Mehrheit im künftigen Unterhaus erreichen. Dann setzt sich die Situation vor der Wahl fort. Wenn überhaupt werden die Oppositionsparteien dem EU-Austrittsabkommen nur unter Bedingungen zustimmen. Labour beispielsweise könnte eine Volksabstimmung über den „Deal“als Kompromiss fordern. Das ist noch die relativ leichteste Übung. Will Johnson die Zusammenarbeit mit der nordirischen Unionistenpartei DUP fortsetzen, muss das Abkommen überhaupt neu verhandelt werden. Denn die UK-treuen Nordiren wollen nicht hinnehmen, dass in Zukunft Waren in der irischen See kontrolliert werden müssen. Sie fühlen sich von London verraten. Auch wenn die Brexit-Partei in das Unterhaus einzieht, ist zu erwarten, dass deren Chef Nigel Farage als Gegenleistung für eine Unterstützung eine Neuverhandlung oder das Ausscheiden aus der EU ohne Abkommen verlangt. Wollen die Tories wie 2010 mit den ebenfalls wirtschaftsfreundlichen Liberaldemokraten zusammenarbeiten, könnte die Hürde noch höher liegen. Denn die einzig wirklich proeuropäische Partei neben den schottischen Nationalisten fordert ein neues Referendum, in dem aber nicht über das Abkommen, sondern erneut über den EU-Austritt abgestimmt werden soll.
Wie auch immer sich der Tory-Chef im Falle eines „Hung Parliament“entscheidet: es wird eine neuer Verzögerung des Brexit geben. Ohne klare Mehrheit dürfte auch der nächste Austrittstermin Ende Jänner nicht halten. Der nächste Premierminister müsste in Brüssel um eine Verschiebung des EU-Austritts ansuchen. Es wäre nach dem 29. März 2019, dem 12. April, dem 31. Oktober und dem 31. Jänner 2020 der mittlerweile fünfte Termin für den Abschied aus der Union.
3 Labourchef Corbyn wird Premierminister
Kaum wahrscheinlich ist ein drittes Szenario: Sollte Boris Johnson nicht die Mehrheit schaffen und auch keinen Koalitionspartner finden, könnte die Opposition den Premierminister stellen. Als erster käme Labour-Chef Jeremy Corbyn zum Zug. Doch auch seine Ausgangslage beim Brexit wäre kaum komfortabler. Da er sich bereits auf ein Referendum zum Austrittsabkommen festgelegt hat, wäre eine weitere Verzögerung des Brexit die Folge. Corbyn müsste diese umgehend bei den EU-Partnern beantragen. Arbeitet er mit einer der anderen Parteien der bisherigen Opposition zusammen, kämen zudem weitere Varianten ins Spiel. Mit den Liberaldemokraten dürfte das Referendum gleich in eine neuerliche EU-Abstimmung über eine weitere EU-Mitgliedschaft umbenannt werden. Ähnlich schwierig wäre für Corbyn eine Zusammenarbeit mit den Schottischen Nationalisten (SNP), falls diese sich überhaupt für eine Mehrheit ausgehen könnte. Die SNP würde mit großer Wahrscheinlichkeit im Gegenzug für ein Ja zum Brexit-Kurs von Corbyn ein neuerliches Referendum über die Unabhängigkeit fordern.