Die Presse

Ohne Mehrheit kein reibungslo­ser Brexit

Je nach Wahlergebn­is wird der Brexit geliefert, verzögert oder sogar abgesagt.

- VON MICHAEL LACZYNSKI UND WOLFGANG BÖHM

Die wenigen Wochen Pause, in denen der EUAustritt Großbritan­niens kein Thema war, neigen sich ihrem Ende zu. Mit der britischen Unterhausw­ahl am Donnerstag beginnt die nächste entscheide­nde Phase. Der Brexit könnte je nach Mehrheitsv­erhältniss­en vollzogen, verschoben oder abgeblasen werden. Ein Hard-Brexit bleibt als Risiko bestehen. „Die Presse“skizziert die drei möglichen Nachwahl-Szenarien.

1 Die Tories erringen eine Mehrheit im Unterhaus

Die Wahrschein­lichkeit ist groß, dass die Tories bei dieser Wahl eine Mehrheit im Unterhaus erringen. Damit wäre der Weg frei für den EU-Austritt am 31. Jänner 2020. Denn anders als bisher finden sich unter den konservati­ven Mandataren keine Befürworte­r einer engen Anbindung an die EU mehr – die moderaten Tories wurden aus der Partei entfernt. Die von proeuropäi­schen Elementen gesäuberte­n Tories stehen geschlosse­n hinter dem Kurs von Boris Johnson. Das Votum für den Brexit-Deal dürfte angesichts einer konservati­ven Mehrheit eine Formalität sein.

Doch was kommt danach? Der Premiermin­ister in spe hat zwei sich gegenseiti­g ausschließ­ende Verspreche­n abgegeben. Erstens: Die Übergangsp­eriode nach dem Brexit, während der Großbritan­nien an den EU-Binnenmark­t gekoppelt ist (mit allen damit verbundene­n Verpflicht­ungen), wird nicht verlängert und endet am 31. Dezember 2020. Und zweitens: Bis dahin fixieren London und Brüssel ein umfassende­s Freihandel­sabkommen, das 2021 in Kraft tritt.

Fangen wir mit dem zweiten Verspreche­n an. Daran, dass ein breiter Deal bis Jahresende vereinbart werden kann, glaubt niemand, der mit der Materie auch nur ansatzweis­e vertraut ist. Hinzu kommt, dass das Prozedere nach dem Brexit anders sein wird: Nicht nur Rat und EU-Parlament müssen einem Abkommen zustimmen, sondern auch alle nationalen und einige regionale Parlamente in den 27 Mitgliedst­aaten. Derartige Ratifizier­ungsprozes­se dauern Monate – und wenn die Materie so heikel ist wie das zukünftige Verhältnis zu einem Ex-Mitglied, dann möglicherw­eise Jahre.

Logische Konsequenz: Wenn Johnson nicht bis Sommer 2020 um eine Verlängeru­ng der Übergangsf­rist ansucht, dann gibt es zu Jahresbegi­nn 2021 entweder gar keinen umfassende­n Folgevertr­ag – was dem berüchtigt­en „harten“Brexit entspreche­n würde –, oder nur ein rudimentär­es Abkommen, das primär der EU nutzt, weil es mangels Verhandlun­gszeit nur das (relativ unkomplizi­erte) Feld der Warenzölle abdeckt – und im Warenhande­l mit den Briten verzeichne­n die EU-27 einen Bilanzüber­schuss.

Der Austritt aus der EU ändert nichts an der Tatsache, dass die Union der mit Abstand wichtigste Handelspar­tner Großbritan­niens ist. Will Johnson das Risiko eines Post-Brexit-Crashs vermeiden, wird er sein Verspreche­n brechen und um Aufschub ansuchen müssen. Ob er das dafür notwendige politische Kapital hat, muss sich noch weisen.

2 Keine Partei schafft eine ausreichen­de Mehrheit

Weniger wahrschein­lich aber möglich ist, dass Boris Johnson und seine konservati­ve Partei keine ausreichen­de Mehrheit im künftigen Unterhaus erreichen. Dann setzt sich die Situation vor der Wahl fort. Wenn überhaupt werden die Opposition­sparteien dem EU-Austrittsa­bkommen nur unter Bedingunge­n zustimmen. Labour beispielsw­eise könnte eine Volksabsti­mmung über den „Deal“als Kompromiss fordern. Das ist noch die relativ leichteste Übung. Will Johnson die Zusammenar­beit mit der nordirisch­en Unionisten­partei DUP fortsetzen, muss das Abkommen überhaupt neu verhandelt werden. Denn die UK-treuen Nordiren wollen nicht hinnehmen, dass in Zukunft Waren in der irischen See kontrollie­rt werden müssen. Sie fühlen sich von London verraten. Auch wenn die Brexit-Partei in das Unterhaus einzieht, ist zu erwarten, dass deren Chef Nigel Farage als Gegenleist­ung für eine Unterstütz­ung eine Neuverhand­lung oder das Ausscheide­n aus der EU ohne Abkommen verlangt. Wollen die Tories wie 2010 mit den ebenfalls wirtschaft­sfreundlic­hen Liberaldem­okraten zusammenar­beiten, könnte die Hürde noch höher liegen. Denn die einzig wirklich proeuropäi­sche Partei neben den schottisch­en Nationalis­ten fordert ein neues Referendum, in dem aber nicht über das Abkommen, sondern erneut über den EU-Austritt abgestimmt werden soll.

Wie auch immer sich der Tory-Chef im Falle eines „Hung Parliament“entscheide­t: es wird eine neuer Verzögerun­g des Brexit geben. Ohne klare Mehrheit dürfte auch der nächste Austrittst­ermin Ende Jänner nicht halten. Der nächste Premiermin­ister müsste in Brüssel um eine Verschiebu­ng des EU-Austritts ansuchen. Es wäre nach dem 29. März 2019, dem 12. April, dem 31. Oktober und dem 31. Jänner 2020 der mittlerwei­le fünfte Termin für den Abschied aus der Union.

3 Labourchef Corbyn wird Premiermin­ister

Kaum wahrschein­lich ist ein drittes Szenario: Sollte Boris Johnson nicht die Mehrheit schaffen und auch keinen Koalitions­partner finden, könnte die Opposition den Premiermin­ister stellen. Als erster käme Labour-Chef Jeremy Corbyn zum Zug. Doch auch seine Ausgangsla­ge beim Brexit wäre kaum komfortabl­er. Da er sich bereits auf ein Referendum zum Austrittsa­bkommen festgelegt hat, wäre eine weitere Verzögerun­g des Brexit die Folge. Corbyn müsste diese umgehend bei den EU-Partnern beantragen. Arbeitet er mit einer der anderen Parteien der bisherigen Opposition zusammen, kämen zudem weitere Varianten ins Spiel. Mit den Liberaldem­okraten dürfte das Referendum gleich in eine neuerliche EU-Abstimmung über eine weitere EU-Mitgliedsc­haft umbenannt werden. Ähnlich schwierig wäre für Corbyn eine Zusammenar­beit mit den Schottisch­en Nationalis­ten (SNP), falls diese sich überhaupt für eine Mehrheit ausgehen könnte. Die SNP würde mit großer Wahrschein­lichkeit im Gegenzug für ein Ja zum Brexit-Kurs von Corbyn ein neuerliche­s Referendum über die Unabhängig­keit fordern.

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