Kulturkrieg um Gewaltschutzgesetz
Russland. Aktuell gibt es einen neuen Anlauf für ein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt. Doch ultrakonservative Aktivisten wollen es unbedingt verhindern. Sie diffamieren die Initiative als Gefahr für sogenannte traditionelle Werte.
Aljona Popowa kämpft für ein Gewaltschutzgesetz in Russland. Wegen einer guten Freundin. Deren Ehemann schlug mit der Faust auf die junge Frau ein. Viele Male. Auf den Bauch. Sie war schwanger. Das Kind verlor sie. Sie überlebte. Als Aljona Popowa ins Krankenhaus kam, stand der Ehemann dort. Die Freundin sagte: „Ich bin selbst schuld.“Der Polizei hatte sie erzählt, sie sei von der Treppe gestürzt. Popowa war schockiert. Doch sie konnte nichts tun. Von einem Unbeteiligten würde man keine Anzeige annehmen.
Aljona Popowa bekommt heute noch eine Gänsehaut, wenn sie diese Geschichte erzählt. Seit dem Vorfall vor sechs Jahren hat sie Jus studiert und die Kampagne „Du bist nicht allein“gegründet, die Opfern häuslicher Gewalt hilft.
Dieser Tage hat die 36-jährige zierliche Frau mit den dramatisch geschminkten Wimpern ein Treffen nach dem anderen. Es ist ein entscheidender Moment für Russland: Das Land soll ein Gewaltschutzgesetz bekommen. Endlich. In den vergangenen drei Jahrzehnten gab es unzählige Anläufe dafür. Eingebracht hat es der Föderationsrat, die zweite Parlamentskammer. Dessen Vorsitzende, die konservative Politikerin und PutinVertraute Valentina Matwienko, unterstützt das Vorhaben.
Auch Matwienko kennt die besorgniserregende Statistik: Ein Fünftel der russischen Frauen erlebt laut einer Umfrage der staatlichen Statistikbehörde Rosstat körperliche Gewalt im Privaten. Umgerechnet sind das rund 15 Millionen Frauen. Aber nur knapp 50.000 Frauen scheinen in einer aktuellen Statistik des Innenministeriums als Opfer häuslicher Gewalt auf.
Auch Popowa lobbyiert seit Langem für das Gesetz. Im Parlament sind ihre Mappen mit Informationsmaterial berühmt-berüchtigt. Einmal floh ein Abgeordneter vor ihr auf die Herrentoilette. Als er 20 Minuten später herauskam, stand sie noch immer da – mit der Mappe. „Er dachte wohl, ich gehe weg“, sagt Popowa lachend. Noch bis Ende der Woche kann die Öffentlichkeit den Gesetzesvorschlag kommentieren, dann wird das Parlament entscheiden. Popowa hofft auf eine Annahme. „Es würde bedeuten: Gewalt ist nicht zulässig.“
„Schlägt er dich, dann liebt er dich“: Mit Sprüchen wie diesen wird häusliche Gewalt in Russland oft bagatellisiert. Sie gilt als Privatsache des Paares, in die sich selbst die Polizei nicht gern einmischt. Die reagiert gemeinhin nach dem
Prinzip: „Wir kommen erst, wenn es eine Leiche gibt.“
Und in jüngster Zeit haben sich die Leichen gehäuft. Da ist der Fall des Historikers in St. Petersburg, der seine Freundin zerstückelte. Oder jener der Schwestern Chatschaturjan, die sich nach jahrelangem Missbrauch durch den Vater wehrten und ihn erstachen. Ihr Fall kommt bald vor Gericht. Es ist nicht sicher, ob sie auf Strafmilderung hoffen können. „Ein Großteil der Frauen, die heute für Mord im Gefängnis sitzen, hat sich selbst verteidigt“, sagt Popowa.
Auch Überlebende melden sich vermehrt in der Öffentlichkeit zu Wort. Wie Rita Gratschowa, die heute anstelle ihrer rechten Hand eine Prothese trägt. Ihr Mann wollte ihr beide Hände mit einer Axt abschlagen. Mit dem Buch „Glücklich ohne Hände“will sie anderen Opfern Mut machen. Gratschowas Mann hatte sie schon früher bedroht. Doch weder potenzielle Opfer noch Außenstehende können derzeit Alarm schlagen: Es gibt keine Maßnahmen wie die Wegweisung oder Beratungsangebote.
Die Rechtslage der Opfer hat sich in den letzten Jahren sogar noch verschlechtert. Seit 2017 sind Schläge in der Familie entkriminalisiert. Sie können mit einer Geldstrafe von umgerechnet 70 Euro beglichen werden. „Als ob man ein Auto falsch parkte“, kritisiert Aljona Popowa.
Trotz dieser Missstände gibt es große Widerstände gegen das Gesetz. Die Debatte gleicht einem Kulturkampf, der zulasten der Opfer ausgetragen wird. Russland müsse sich gegen Einflüsse aus dem Ausland wehren und traditionelle Werte schützen, sagen die orthodoxen Kreuzritter der Bewegung „Sorok Sorokow“. Aktivistinnen wie Popowa und Politikerinnen wie Oksana Puskinaˇ von der Kremlpartei Einiges Russland, die für das Gesetz eintritt, werden von ihnen als „Verräter“verunglimpft. Nächste Woche rufen die Erzkonservativen zum Massengebet.
In ihren Publikationen behaupten sie, dass das Gesetz Familien zerstöre und Kinder der unbeliebten Fürsorge ausliefere. Gezielt werden Falschinformationen gestreut, etwa dass betroffene Kinder zur Adoption an gleichgeschlechtliche Paare im Ausland freigegeben werden. Auch die einflussreiche Führung der russischen orthodoxen Kirche gibt sich skeptisch. Patriarch Kirill erklärte, Gewalt in der Familie sei eine „große Sünde“, aber auch Einmischung von außen sei zu vermeiden.
Politisch ist die Lage wie folgt: Einerseits haben die Abgeordneten den Auftrag, tätig zu werden. Andererseits will man keinesfalls ein progressives, am westlichen Beispiel orientiertes Gesetz erlassen. Gut möglich also, dass die derzeitige Vorlage weiter verwässert wird.
Schon die aktuelle Version unterscheidet sich stark von der, an der Aljona Popowa mitgearbeitet hat. Die Definition der häuslichen Gewalt ist sehr eng gefasst. Zudem schützt das Gesetz nur Menschen, die in einer Ehe leben oder lebten, nicht aber Lebensgemeinschaften. Der „Erhalt der Familie“steht im Kapitel über Vorbeugungsmaßnahmen an erster Stelle. „Wo bleibt der Opferschutz?“, fragt Popowa. Dennoch will sie den Vorschlag unterstützen: ein schwaches Gesetz sei besser als keines.