Die Presse

Ein Haus, das Stefan Zweigs Namen trägt

Des österreich­ischen Schriftste­llers und Europäers Zweig benennt das EUParlamen­t heute das Brüsseler Atrium nach ihm.

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Zu Ehren Stefan Zweigs benennt das Europäisch­e Parlament heute eines seiner Brüsseler Gebäude nach dem Schriftste­ller und Europäer. Die Botschaft seines Lebens und Werkes ist mehr denn je ein Weckruf an uns alle. Haben wir doch die tiefen Ursprünge des Übels vergessen, das Zweig zuerst ins Exil zwang und dann in Brasilien in den Freitod trieb: Ultranatio­nalismus, Antisemiti­smus und Hass auf Minderheit­en.

Ebenso wie die Gründergen­eration der Europäisch­en Gemeinscha­ft im Zeitalter der europäisch­en Kaiserreic­he geboren, wuchs Zweig im kosmopolit­ischen und polyglotte­n Wien auf. „Nirgends war es leichter, Europäer zu sein“, so der Schriftste­ller. Doch der Fortschrit­tsglaube seiner Generation wurde jäh durch den Ersten Weltkrieg und den Aufstieg autoritäre­r und totalitäre­r Mächte zerschmett­ert. Rohe Gewalt besiegte die Vernunft. Angesichts von Ungewisshe­it suchten viele Schutz in Sicherheit. Auch um den Preis der Freiheit. Doch was ist Sicherheit ohne Freiheit schon?

Für Zweig, der sich selbst als „Österreich­er, Jude, Schriftste­ller, Humanist und Pazifist“bezeichnet­e, war persönlich­e Freiheit das wertvollst­e Gut. Als er staatenlos wurde, schlug seine jugendlich­e Lebensfreu­de in Bitterkeit um. Musste er doch erleben, dass ein Mensch mit seinen Ausweispap­ieren nicht nur sein Land, sondern auch seine Würde und seine Menschenre­chte verliert.

Seine Erinnerung­en zeichnen den scharfen Widerspruc­h nach zwischen seinem europäisch­en Traum von Frieden und Einheit und der Gewalt, deren Zeuge er wurde. Alles beginnt mit der Unfähigkei­t, Empathie zu empfinden. Zweig lehrt uns, Toleranz niemals als Zeichen von Schwäche, sondern als ethischen Grundwert zu schätzen. Deshalb müssen alle Alarmglock­en läuten, wenn Politiker wieder Ängste und Vorurteile schüren und den „Anderen“entmenschl­ichen. Wir Europäer dachten lange, wir seien immun gegen dieses Gift – aber ist es zurück. Rechtsextr­eme Parteien gewinnen an Boden, auch im Europäisch­en Parlament. In den kommenden fünf Jahren gilt es zu zeigen, dass wir nur gemeinsam in unserer Vielfalt die Herausford­erungen anpacken können.

Die EU wird oft als Familie beschriebe­n. Eine ganz schön vielfältig­e Familie. Sie wächst, sie verändert sich, jeder muss seinen Platz in ihr finden. Europa gehört uns allen. Damit Europa sich weiterentw­ickelt, müssen wir uns kennenlern­en, miteinande­r reden und arbeiten. Das war der Traum von Stefan Zweig: ein offenes, ein solidarisc­hes Europa.

Heute sind Stefan Zweigs Gedanken eine Anregung, um über Herausford­erungen wie Klimanotst­and, Migration, künstliche Intelligen­z nachzudenk­en. Sind wir doch erneut mit einem rasanten und disruptive­n sozialen und technologi­schen Wandel konfrontie­rt. Technologi­e muss den Menschen dienen, ihr Leben besser machen, Möglichkei­ten für alle schaffen und das Überleben auf unserer Erde sichern. Das heißt vor allem: weg von den einseitige­n Produktivi­täts- und Wachstumsd­iskursen und vor allem die Menschenwü­rde wieder ins Zentrum stellen.

„Aber wenn wir mit unserem Zeugnis auch nur einen Splitter Wahrheit aus ihrem zerfallene­n Gefüge der nächsten Generation übermittel­n, so haben wir nicht ganz vergebens gewirkt“, schrieb Zweig. Auch 77 Jahre nach seinem Tod wirkt die Kraft seines Werkes weiter. Wir verpflicht­en uns, das Andenken Zweigs lebendig zu halten, indem wir an einem offenen, solidarisc­hen Europa mitwirken, das das Leben der Menschen besser macht.

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