VfGH demontiert Prestigeprojekt
Sozialhilfe. Ein weiteres Kernprojekt der ÖVP-FPÖRegierung ist aufgehoben. Das birgt auch Sprengstoff für die Koalitionsverhandler von Türkis-Grün.
Nach dem Sicherheitspaket und Teilen der Krankenkassenreform hat der Verfassungsgerichtshof nun ein Kernprojekt der türkis-blauen Regierung gekippt: die Reform der Sozialhilfe.
1 Was genau hat der Verfassungs gerichtshof entschieden?
Das Sozialhilfe gesetz selbst ist nicht aufgehoben und in einem wesentlichen Punkt sogar ausdrücklich bestätigt: Der Bund darf den Ländern Vorgaben dazu machen, wie sie die Sozialhilfe gestalten müssen. Das war von etlichen Ländervertretern angezweifelt worden. Wohl aber hat der VfGH drei zentrale Bestimmungen des Gesetzes gekippt: die Kürzung bei kinderreichen Familien, die Kürzung bei Asylberechtigten sowie das Statistikgesetz.
Das Gesetz hat die Zuwendungen für Kinder degressiv gestaltet, ab dem dritten Kind soll es nur noch 47 Euro geben. Das ist „sachlich nicht gerechtfertigt“, und könne dazu führen, dass bei Mehrkindfamilien der notwendige Lebensunterhalt nicht mehr gewährleistet ist, sagen die Höchstrichter.
Die auf Asylberechtigte abzielende Bestimmung, wonach die volle Sozialhilfe an gute Deutsch- oder Englischkenntnisse geknüpft ist, betrachtet der VfGH als „nicht sachgerecht“. Laut Gesetz wird bei schlechteren Sprachkenntnissen der „Arbeitsqualifizierungsbonus“von 300 Euro abgezogen und für Sprachkurse verwendet. Das sei aber schon deshalb unsachlich, weil keine Gründe ersichtlich seien, warum nur bei Sprachkenntnissen auf diesem hohen Niveau eine Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt anzunehmen sein soll, so die Höchstrichter.
Schließlich ist auch das Statistikgesetz verfassungswidrig, demzufolge genaue Daten über die Herkunft von Sozialhilfebeziehern gesammelt werden sollten. Das verstoße gegen den Datenschutz.
2 Wie geht es nun mit der Sozialhilfe weiter?
In den meisten Bundesländern ändert sich nicht viel, sieben Länder haben die Vorgabe des Bundes gar nicht zeitgerecht mit 1. 1. 2020 umgesetzt, weil sie auf das VfGHErkenntnis warten wollten. Sie prüfen derzeit die rechtliche Lage, ob und, wenn ja, welche Anpassungen sie in ihren Landes gesetzen vornehmen müssen, weil ja das Sozialhilfe gesetz weiterhin in Kraft ist. Da geht es aber um keine großen Änderungen.
Anders ist die Lage in Niederösterreich und Oberösterreich: Die beiden Länder haben die Vorgaben des Bundes bereits umgesetzt, inklusive der nun aufgehobenen Bestimmungen. Die Landesgesetze treten nun in Kraft, würden aber, so sie vor dem VfGH angefochten werden, mit Sicherheit aufgehoben. Für Oberösterreich kündigte eine Sprecherin der ÖVP an, das Erkenntnis werde von Juristen geprüft, am Mittwoch werde eine Entscheidung bekannt gegeben. Niederösterreich wird die Punkte, die vom VfGH gehoben wurden, „natürlich auch im Land heben“, so der Sprecher von Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner zur „Presse“.
3 Was bedeutet das Erkenntnis für die Koalitionsverhandlungen?
Noch am Wochenende hat Sebastian Kurz festgehalten, dass die ÖVP in den Verhandlungen die Reform der Sozialhilfe nicht antasten werde. Das sahen die Grünen ganz anders: Unter dem Titel „Kampf gegen die Kinderarmut“war das Sozialhilfegesetz eines ihrer zentralen Themen. Das VfGH-Erkenntnis bringt nun neuen Sprengstoff für die Verhandlungen: Denn jetzt geht es nicht mehr darum, ein bestehendes Gesetz nachträglich zu adaptieren, sondern eine völlig neue Regelung zu schaffen. Und da liegen die Vorstellungen weit auseinander.
Möglicherweise will die ÖVP das Thema jetzt völlig weghaben: Sozialsprecher August Wöginger erklärte in einer Aussendung, die Länder müssten nun eigene Regelungen einführen. Sonst sieht Wöginger das Erkenntnis kritisch: „Wir können die Entscheidung absolut nicht nachvollziehen, und sie widerspricht vollkommen unseren politischen Überzeugungen.“Noch drastischer äußerte sich der einstige Koalitionspartner: Die Höchstrichter hätten „den Magneten für unqualifizierte Zuwanderung“wieder auf Höchstleistung gestellt, sagte Klubchef Herbert Kickl.
25% sind durch Behinderung stark beeinträchtigt 58% aller SozialhilfeBezieher sind chronisch krank 71.995 Personen stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung 16.104 Sozialhilfe-Bezieher haben ein Erwerbseinkommen