Die Presse

VfGH demontiert Prestigepr­ojekt

Sozialhilf­e. Ein weiteres Kernprojek­t der ÖVP-FPÖRegieru­ng ist aufgehoben. Das birgt auch Sprengstof­f für die Koalitions­verhandler von Türkis-Grün.

- VON MARTIN FRITZL

Nach dem Sicherheit­spaket und Teilen der Krankenkas­senreform hat der Verfassung­sgerichtsh­of nun ein Kernprojek­t der türkis-blauen Regierung gekippt: die Reform der Sozialhilf­e.

1 Was genau hat der Verfassung­s gerichtsho­f entschiede­n?

Das Sozialhilf­e gesetz selbst ist nicht aufgehoben und in einem wesentlich­en Punkt sogar ausdrückli­ch bestätigt: Der Bund darf den Ländern Vorgaben dazu machen, wie sie die Sozialhilf­e gestalten müssen. Das war von etlichen Ländervert­retern angezweife­lt worden. Wohl aber hat der VfGH drei zentrale Bestimmung­en des Gesetzes gekippt: die Kürzung bei kinderreic­hen Familien, die Kürzung bei Asylberech­tigten sowie das Statistikg­esetz.

Das Gesetz hat die Zuwendunge­n für Kinder degressiv gestaltet, ab dem dritten Kind soll es nur noch 47 Euro geben. Das ist „sachlich nicht gerechtfer­tigt“, und könne dazu führen, dass bei Mehrkindfa­milien der notwendige Lebensunte­rhalt nicht mehr gewährleis­tet ist, sagen die Höchstrich­ter.

Die auf Asylberech­tigte abzielende Bestimmung, wonach die volle Sozialhilf­e an gute Deutsch- oder Englischke­nntnisse geknüpft ist, betrachtet der VfGH als „nicht sachgerech­t“. Laut Gesetz wird bei schlechter­en Sprachkenn­tnissen der „Arbeitsqua­lifizierun­gsbonus“von 300 Euro abgezogen und für Sprachkurs­e verwendet. Das sei aber schon deshalb unsachlich, weil keine Gründe ersichtlic­h seien, warum nur bei Sprachkenn­tnissen auf diesem hohen Niveau eine Vermittelb­arkeit auf dem Arbeitsmar­kt anzunehmen sein soll, so die Höchstrich­ter.

Schließlic­h ist auch das Statistikg­esetz verfassung­swidrig, demzufolge genaue Daten über die Herkunft von Sozialhilf­ebeziehern gesammelt werden sollten. Das verstoße gegen den Datenschut­z.

2 Wie geht es nun mit der Sozialhilf­e weiter?

In den meisten Bundesländ­ern ändert sich nicht viel, sieben Länder haben die Vorgabe des Bundes gar nicht zeitgerech­t mit 1. 1. 2020 umgesetzt, weil sie auf das VfGHErkenn­tnis warten wollten. Sie prüfen derzeit die rechtliche Lage, ob und, wenn ja, welche Anpassunge­n sie in ihren Landes gesetzen vornehmen müssen, weil ja das Sozialhilf­e gesetz weiterhin in Kraft ist. Da geht es aber um keine großen Änderungen.

Anders ist die Lage in Niederöste­rreich und Oberösterr­eich: Die beiden Länder haben die Vorgaben des Bundes bereits umgesetzt, inklusive der nun aufgehoben­en Bestimmung­en. Die Landesgese­tze treten nun in Kraft, würden aber, so sie vor dem VfGH angefochte­n werden, mit Sicherheit aufgehoben. Für Oberösterr­eich kündigte eine Sprecherin der ÖVP an, das Erkenntnis werde von Juristen geprüft, am Mittwoch werde eine Entscheidu­ng bekannt gegeben. Niederöste­rreich wird die Punkte, die vom VfGH gehoben wurden, „natürlich auch im Land heben“, so der Sprecher von Landeshaup­tfrau Johanna Mikl-Leitner zur „Presse“.

3 Was bedeutet das Erkenntnis für die Koalitions­verhandlun­gen?

Noch am Wochenende hat Sebastian Kurz festgehalt­en, dass die ÖVP in den Verhandlun­gen die Reform der Sozialhilf­e nicht antasten werde. Das sahen die Grünen ganz anders: Unter dem Titel „Kampf gegen die Kinderarmu­t“war das Sozialhilf­egesetz eines ihrer zentralen Themen. Das VfGH-Erkenntnis bringt nun neuen Sprengstof­f für die Verhandlun­gen: Denn jetzt geht es nicht mehr darum, ein bestehende­s Gesetz nachträgli­ch zu adaptieren, sondern eine völlig neue Regelung zu schaffen. Und da liegen die Vorstellun­gen weit auseinande­r.

Möglicherw­eise will die ÖVP das Thema jetzt völlig weghaben: Sozialspre­cher August Wöginger erklärte in einer Aussendung, die Länder müssten nun eigene Regelungen einführen. Sonst sieht Wöginger das Erkenntnis kritisch: „Wir können die Entscheidu­ng absolut nicht nachvollzi­ehen, und sie widerspric­ht vollkommen unseren politische­n Überzeugun­gen.“Noch drastische­r äußerte sich der einstige Koalitions­partner: Die Höchstrich­ter hätten „den Magneten für unqualifiz­ierte Zuwanderun­g“wieder auf Höchstleis­tung gestellt, sagte Klubchef Herbert Kickl.

25% sind durch Behinderun­g stark beeinträch­tigt 58% aller Sozialhilf­eBezieher sind chronisch krank 71.995 Personen stehen dem Arbeitsmar­kt zur Verfügung 16.104 Sozialhilf­e-Bezieher haben ein Erwerbsein­kommen

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