Die Presse

„Das Regime wird nicht so leicht verschwind­en“

Algerien. Nach der brachial durchgeset­zten Präsidente­nwahl in der vergangene­n Woche wächst in der Protestbew­egung die Ratlosigke­it. Politisch rührt sich die alte Machtelite keinen Millimeter. Über die weitere Strategie herrscht Uneinigkei­t.

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Plötzlich hält es Louisa Ait Hamadouche nicht mehr auf ihrem Sessel. „Ich muss los“, sagt die zierliche Frau mit Kopftuch und schlüpft in ihren Mantel. Von draußen dringen die Rufe „Wir wählen keinen dieser Wölfe!“und „Ab in die Mülltonne mit den Generälen!“in das kleine Cafe´ „le 404“in der Rue Bessa Ahmed, nahe der breiten Didouche Mourad, der allwöchent­lichen Protestmei­le der algerische­n Hauptstadt. Die Professori­n an der Universitä­t Algier, die als gewichtige Stimme der Hirak-Protestbew­egung gilt, will wenigstens noch die letzte halbe Stunde mit dabei sein.

Die Protestbew­egung, die sich im Februar formiert hat, hat den seit zwanzig Jahren herrschend­en Präsidente­n Abdelaziz Bouteflika im April wenige Wochen vor dem offizielle­n Ende seiner vierten Amtszeit zum Rücktritt gezwungen. Hirak forderte fundamenta­le politische Reformen und lehnte die Präsidente­nwahl deshalb ab. Und so kochte der Volkszorn vergangene­n Freitag besonders hoch, nachdem das Regime wenige Stunden zuvor Ex-Premier Abdelmadji­d Tebboune als Sieger und neuen Staatschef ausgerufen hatte.

Der 74-Jährige gilt als altes Schlachtro­ss des Regimes und Favorit des Militärs. Kein Wunder, dass er gleich im ersten Wahlgang mit angeblich 58,1 Prozent um Längen vor seinen vier ebenfalls handverles­enen Konkurrent­en landete, was den Algeriern zumindest die Demütigung eines zweiten, ähnlich krass gefälschte­n Wahlganges erspart. Das gilt vor allem für die Wahlbeteil­igung, an der die Legitimitä­t des neuen Staatsober­hauptes hängt. Sie lag, so verkündete die staatliche Wahlleitun­g, bei 41,1 Prozent. EU-Beobachter waren diesmal vorsichtsh­alber gar nicht erst zugelassen.

In kaum einem von Journalist­en besuchten Wahllokal jedoch lag die Beteiligun­g am Ende bei mehr als zehn Prozent. Überall die gleiche gähnende Leere und stumme Ratlosigke­it der staatliche­n

Wahlhelfer – die wahren Ziffern wären ein Fiasko geworden.

„Das Regime verdient den Nobelpreis für Betrug“, spottete einer der jungen Demonstran­ten. Stirn und Nase hat er sich mit weißem Mehl bestäubt. Das ist Kokain, gestikulie­ren er und seine Freunde lachend. Mit massenhaft verstreute­m Pseudokoka­in macht sich die Menge lustig über die Familie des frisch gekürten Staatsober­hauptes, dessen Sohn vergangene­s Jahr mit 700 Kilogramm Koks erwischt wurde und seitdem im Gefängnis sitzt.

Louisa Ait Hamadouche ist Politologi­n und sieht Algerien nach dieser „miserablen Abstimmung“an einem Scheideweg. „Zwischen dem Volk und dem Regime herrscht das totale Misstrauen, das ist der Kern unserer politische­n Krise“, sagt sie. Und sollte der neue Präsident weiterhin darauf setzen, die Forderunge­n der Hirak zu ignorieren, die Volksbeweg­ung einzuschüc­htern und an der Nase herumzufüh­ren, könnte das Land in riskantes Fahrwasser geraten.

Denn politisch rührt sich die Machtelite bisher keinen Millimeter, lässt es bei gelegentli­chen Einsätzen von Wasserwerf­ern und Tränengas bewenden und organisier­t in den Staatsmedi­en ein Kartell des Schweigens. Die Massenbewe­gung wiederum hat Mühe, ihren Elan zu bewahren und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Sie ist vor allem uneins, ob sie nun eine kollektive Führung braucht, die auf Augenhöhe mit „Le Pouvoir“, wie das Volk seine Nomenklatu­ra nennt, verhandeln kann.

„Nur Krach schlagen auf der Straße reicht nicht mehr, wir müssen uns besser strukturie­ren und politische Antworten geben“, meint Politologi­n Louisa Ait Hamadouche. Doch sie kennt das Risiko. 150 Meinungsfü­hrer wurden bisher verhaftet. Jedem, der als neuer Sprecher auftaucht, droht das gleiche Schicksal. 43 Wochen lang ist das Volk nun schon auf der Straße. Am Freitag sind die Geschäfte geschlosse­n. Das Ganze wirkt längst wie ein vertrautes Feiertagsr­itual, eine Mischung aus Volksfest und Fußballnac­hmittag, das dem tristen Alltag einen fröhlichen Farbtupfer gibt.

Jenseits dieser Demonstrat­ionen jedoch bröckelt der Enthusiasm­us. Die abendliche­n Diskussion­en drehen sich im Kreis, berichten Studenten wie Mohamed Aliouane und Samy Boukhalfa, der eine studiert Maschinenb­au, der andere Mathematik. Immer weniger kommen zu den Treffen. „Richtig aktiv sind vielleicht noch ein bis zwei Prozent“, sagen sie. Die Mehrheit der Kommiliton­en hält sich abseits. Hinzu kommt die Angst der Eltern um ihre Töchter und Söhne. Sie wissen, wozu das Regime fähig ist, wenn es hart auf hart kommt. Und ihnen steckt der Bürgerkrie­g der Neunzigerj­ahre mit seinen 150.000 Toten noch in den Knochen.

Das gilt auch für Boualem Sansal. Besucher empfängt der 70-jährige Schriftste­ller bei sich zu Hause im 45 Kilometer von Algier entfernten Örtchen Boumerd`es. Sein Haus ist so schwer zu finden, dass er seine Gäste trotz Google Maps auch schon mal mit seinem kleinen blauen Renault Clio suchen fährt. „Ich bin ein Überlebend­er“, sagt er. Auf der Gartenmaue­r rund um sein Grundstück liegen noch die rostigen Stacheldra­htrollen aus der Zeit des Bürgerkrie­gs. Drinnen in seinem Arbeitszim­mer stapeln sich in den Regalen die Bücher. Seine Romane wurden in 36 Sprachen übersetzt. 2011 erhielt er den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s.

Sansal gehört zu den wenigen bekannten Autoren seines Landes, die nicht ins Exil geflohen sind. Die Hirak sieht er in einer Sackgasse. Sie beiße sich an „Le Pouvoir“die Zähne aus, weil die Bewegung kein Oberhaupt besitze, das für sie spreche. Der von der Opposition ausgerufen­e Generalstr­eik sei weitgehend nicht befolgt worden. „Die Algerier sind nicht bereit, bis zum Letzten zu gehen“, sagt er. „Sie haben Angst, wenn sie die Machtprobe suchen, wird die Armee wieder eingreifen, wie 1991, was den Bürgerkrie­g auslöste.“

Gegen eine solche Skepsis verwahrte Anis Saidoune sich lang. „Der wahre Feind ist die Hoffnungsl­osigkeit“, schrieb der 27-Jährige im April nach Beginn der Revolte in einem Text, den er zu einem Sammelband mit dem Titel „Die Revolution des Lächelns“beisteuert­e. Der diplomiert­e Apotheker hat Charisma und strotzt vor Energie. Er gehört zu den führenden Köpfen der Hirak-Studentenb­ewegung. Seine Altersgrup­pe, die unter 30-Jährigen, macht heute fast 60 Prozent der Bevölkerun­g aus. Doch auch ihn beschleich­en mittlerwei­le ähnliche Zweifel wie den wesentlich älteren Boualem Sansal. Die kommenden Wochen würden zeigen, ob der neue Präsident auf die Opposition­sbewegung zugehe, oder ob das große Abräumen beginne. „Dieses Regime wird nicht so leicht verschwind­en“, sagt er. Und: „Im Kopf bin ich Pessimist, im Herzen bleibe ich Optimist.“

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[ AFP] Eine Anhängerin der Protestbew­egung demonstrie­rt, in die Nationalfl­agge gehüllt, in Algier. Doch die Revolte verliert an Kraft.

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