Der Trupp, der Probleme abfangen soll
Schule. Wenn ein Schüler Sessel durch die Klasse wirft, können sich Lehrer in Wien seit wenigen Monaten an eine neue Stelle wenden: an die Schulkooperationsteams, die auch mit den Familien arbeiten können. Ein Besuch in der Schule.
Acht Uhr Früh in einer Volksschule in Wien. Während die Schüler zur ersten Stunde in die Klassen strömen, drängt sich in der kleinen Direktion im ersten Stock eine Gruppe von Menschen um den Tisch: die Schuldirektorin, der junge Klassenlehrer, die Beratungslehrerin, zwei Sozialarbeiterinnen. „Vor zwei Wochen gab es einen Vorfall“, sagt der Lehrer. Und beginnt zu erzählen: von dem Tag, an dem einer seiner zehnjährigen Viertklässler – nennen wir ihn Marko, denn sein wirklicher Name soll hier nicht genannt werden, genauso wenig wie jener der Schule – einen Wutanfall bekam, der darin gipfelte, dass er mit Sesseln um sich warf.
Der Tag, an dem er nach einem Eintrag ins Mitteilungsheft zu schluchzen begann, schrie, immer aggressiver wurde, eine andere Schülerin mit dem Tisch einklemmte – und sich danach unter Tränen unzählige Male entschuldigte, man dürfe das nicht dem Papa sagen, man dürfe das nicht dem Jugendamt sagen – es ist nicht das erste Mal, dass Marko aufgefallen ist. Schon im Vorjahr hatte er einen ähnlichen Wutausbruch, der dazu führte, dass die Beratungslehrerin eingeschaltet wurde. „Für uns ist nicht klar erkennbar, was da läuft“, sagt die Direktorin. „Wir haben daher auch um Hilfe gerufen.“
Und so sitzen an diesem Tag auch die zwei Sozialarbeiterinnen mit am Tisch: Judith Marschner und Monika Wolf gehören zu den Soforthilfetrupps – offiziell: Schulkooperationsteams –, die von der Stadt Wien nach den Debatten über Gewalt in der Schule ins Leben gerufen wurden, von manchen als Tropfen auf den heißen Stein kritisiert. Die insgesamt 24 Mitarbeiter, die seit April knapp 500 Mal von Schulen zu Hilfe gerufen wurden, bieten Hilfestellung bei Problemen mit auffälligen oder gar gewaltbereiten Schülern. Wenn Lehrer bzw. Direktoren sich bei ihnen melden, kommen sie in die Schule.
Zunächst einmal bieten sie dabei ein sogenanntes Clearing-Gespräch an, wie an diesem Tag in Markos Schule. Das bedeutet: Fragen stellen. Was ist genau passiert? Wie verhält sich Marko sonst, hat er Freunde, ist er ein Teil der Klassengemeinschaft? Was wissen die Lehrer über die Familie, wie ist der Kontakt mit den Eltern, und was weiß man über die Familiensituation? Was kann der Bub gut, wovor hat er Angst, was würden sich die Pädagogen für ihn wünschen? Wie schlimm war der Vorfall auf einer Schulnotenskala von eins bis fünf? Und wie viele Sorgen machen sich die Lehrer und die Direktorin um den Buben?
„Es ist an der Grenze von dem, was wir leisten können“, sagt Sozialarbeiterin Judith Marschner nach fast einer Stunde, in der es darum ging, dass Marko eigentlich ein sozialer Bub ist, mit dem man auch durchaus gut reden kann. Offenbar schluckt er viel, bis irgendwann sozusagen das Häferl übergeht. Er kommt langsam in die Pubertät und findet sich selbst zu dick. Zu Hause hat er am Nachmittag wohl nicht viel Beschäftigung und spielt zu viel am Computer. Er hat offenbar Angst vor dem Vater, und es ist schon zumindest die Frage aufgetaucht, ob nicht vielleicht häusliche Gewalt im Spiel sein könnte.
Die Sozialarbeiter werden nun Markos Eltern kontaktieren. Denn das Besondere an den neuen Teams ist, dass sie auch direkt in die Familien gehen können. In einer achtwöchigen Kurzintervention kann abgeklärt werden, was hinter dem Problem stecken könnte, das in der Schule aufgetaucht ist, und mit welchen unterstützenden Einrichtungen man die Familie oder das Kind nun vernetzen könnte: Das reicht von Freizeitangeboten für das Kind bis zur Delogierungsprävention, falls sich herausstellt, dass die Familie in argen finanziellen Schwierigkeiten steckt. Es kann dabei auch zu einer Meldung ans Jugendamt kommen: wenn sich etwa herausstellt, dass an einem zunächst noch vagen Verdacht der häuslichen Gewalt etwas dran sein könnte.
„Wir haben viele Fälle, wo Kinder Symptomträger sind“, erklärt Christian Oswald, der die auf sechs Standorte aufgeteilten Schulkooperationsteams leitet. Ob Geldprobleme oder der Aufenthaltsstatus, ob es Streit in der Familie gibt oder die Eltern Probleme mit dem Job haben: Das sind einige der Dinge, die sich in auffälligem Verhalten des Kindes ausdrücken können. Gerufen werden die Sozialarbeiter zum Beispiel – wie im Fall von Marko –, wenn sich ein Kind aggressiv verhält. Aber auch totaler Rückzug eines Schülers oder Mobbing können Gründe dafür sein, dass sich die Lehrer an die Sozialarbeiterteams wenden, genauso wie Schulverweigerung, Verwahrlosung oder Vernachlässigung und/ oder Schwierigkeiten, überhaupt mit den Eltern des Kindes in Kontakt zu kommen.
„Das schließt eine Lücke“, sagt die Direktorin, die unter den Ersten war, die den Soforthilfetrupp nach seiner Gründung gerufen hat: per Mail mit dem Betreff „Hilfe“, wie sie erzählt. Was sie schätzt ist, dass sie die Sozialarbeiter einschalten kann, wenn sie sich Sorgen macht – aber noch nichts passiert ist, das eine Gefährdungsmeldung an das Jugendamt rechtfertigen würde. Davor hat sie zwar prinzipiell keine Scheu. In manchen problematischen Fällen sei man aber eben noch nicht ganz dort. Viele Eltern würden sich zudem leichter tun, auf Hilfsangebote einzusteigen, wenn man mit diesem, an sich freiwilligen Modell auf sie zukomme. „Man kann so schon viel abfangen.“
Wie es mit Marko weitergeht, wird man in einigen Wochen sehen.