Ein Weltmarktführer im freien Fall
Luftfahrt. Der Produktionsstopp für das Unglücksmodell 737 MAX ist der vorläufige Höhepunkt einer Krise, aus der der US-Flugzeugbauer Boeing nur schwer herausfinden dürfte.
Wie lang kann ein Konzern ein schwerwiegendes Problem kleinreden, mit unrealistischen Prognosen die Öffentlichkeit und sich selbst täuschen? Monatelang. Aber irgendwann ist Schluss und die Krise so ernst, dass sie sich nicht mehr leugnen lässt. Diese bittere Erfahrung macht nun der US-Flugzeugbauer Boeing. Nach zwei Abstürzen des neuen Modells 737 MAX mit 346 Toten und dem danach im März verhängten weltweiten Flugverbot für das Modell hat Boeing jetzt einen vorübergehenden Produktionsstopp ab Jänner verfügt.
Die radikale Maßnahme kommt für manche Experten zu spät. Denn der Abwärtsstrudel, in dem sich der Rivale von Airbus befindet, ist kaum mehr zu stoppen. Im ewigen Tauziehen mit den Prüfund Zulassungsbehörden und trotz immer deutlicherer Hinweise auf – offenbar ignorierte – Schlampereien und Versäumnisse bei der Erstzulassung hat der Konzern Termine für die Wiederzulassung der 737 MAX genannt, die der Boss der US-Aufsichtsbehörde FAA, Steve Dickson, vor einer Woche als schlicht unrealistisch bezeichnete. Jetzt ist die Unsicherheit um die Zukunft der Unglücksmaschine dem Konzern selbst zu groß.
Das Debakel trifft Boeing mehrfach ins Mark: Der immense Imageschaden ist nicht mit Geld aufzuwiegen. Sehr wohl zu beziffern, wenn auch nicht jetzt, sind die Schadenersatzforderungen der Angehörigen der Unfallopfer, sowie von Airlines und deren Piloten. Fluglinien, die die neue Boeing bestellt haben, müssen umdisponieren, Piloten beklagen Verdienstausfälle. So haben in Europa Ryanair und TUIfly bereits Gewinnwarnungen abgesetzt, weil sie den Sommerflugplan zusammenstutzen müssen. Die zum russischen Staatsbetrieb Rostec gehörende Avia Capital Services hat schon eine Klage gegen Boeing eingebracht. Ebenso die drei größten chinesischen Fluggesellschaften, China Eastern, China Southern und Air China. Die US-Airlines, traditionell Boeing-Kunden, der Ausfall noch härter.
Was noch schwerer wiegen könnte, sind jene 400 Maschinen, die bereits produziert sind und bei Boeing auf Halde stehen (weitere 370 Jets sind schon ausgeliefert und irgendwo geparkt). Die Produktion wurde zwar schon im April von 52 auf 42 Maschinen pro Monat gesenkt, Boeing hat aber für das Modell, das der neue Verkaufsschlager werden sollte, Tausende Bestellungen. Die geparkten Flugzeuge können nicht verkauft, müssen aber gewartet werden.
Ein besonders heikler Punkt: Das Fahrwerk des rund 50 Tonnen schweren Jets ist nicht darauf ausgelegt, das Gewicht monatelang zu tragen. Räder und Bremsen müssen vor allem bei der Landung „halten“. Das heißt, dass das Fahrwerk komplett überholt werden muss, bevor der Jet in Betrieb geht.
Die 400 Maschinen haben laut Listenpreis einen Wert von rund 40 Mrd. Dollar. Diesen Betrag, der fast ein Viertel der Börsenkapitalisierung darstellt, steckt auch ein Industrieriese wie Boeing nicht einfach weg.
Das Debakel schlug sich bereits in den Quartalszahlen nieder: trifft
Nachdem im zweiten Quartal wegen Rückstellungen von fünf Mrd. Dollar ein Verlust von 2,9 Mrd. Dollar angefallen war, halbierte sich der Nettogewinn im dritten Quartal auf 1,2 Mrd. Dollar. Bisher bezifferte der Konzern die Kosten auf rund neun Mrd. Dollar. Wie viel es endgültig ist, ist nicht absehbar. 2019 wird jedenfalls als schwarzes Jahr in die Geschichte des 103 Jahre alten Konzerns eingehen. Das zeigt auch der Kursverlauf der einst als Bluechip gehandelten Aktie. In den letzten drei Monaten sank der Wert um 15 Prozent.
Faktum ist, dass der Produktionsstopp – der erste bei Boeing seit 20 Jahren, als es Lieferprobleme gab – die gesamte US-Wirtschaft erheblich belasten dürfte. Denn an dem Großkonzern hängen Tausende Zulieferer und andere Firmen, die unter dem Fertigungsstopp leiden. Das könnte die US-Konjunktur insgesamt negativ beeinflussen, zumal die Verkäufe von Boeing-Maschinen in alle Welt ein wichtiger Faktor in der Außenhandelsbilanz sind. Die ist notorisch im Minus und betrug im Oktober minus 77 Mrd. Dollar.
Der Produktionsstopp kommt nicht ganz überraschend, weil Konzernchef Dennis Muilenburg schon Andeutungen gemacht hat. Er muss aber unter großem Druck der FAA erfolgt sein. Nach einem Treffen von Muilenburg mit Dickson dürfte Letzterem der Geduldsfaden gerissen sein, wird kolportiert. Der Chef der Aufsichtsbehörde verbat sich weitere Statements von Boeing, die dazu angetan seien, den Druck auf seine Behörde beim Wiederzulassungsverfahren zu erhöhen. Wie lang sich Muilenburg selbst hält, ist die Frage.
Als Grund für die Abstürze gilt das eigens für die 737 MAX entwickelte Steuerungssystem MCAS. Boeing hatte bereits nach dem Unglück in Indonesien versprochen, die MCAS-Probleme per SoftwareUpdate zu beheben. Dann kam es zum Absturz in Äthiopien. Testpiloten sollen schon 2016 vor Problemen mit MCAS gewarnt haben. Ein Boeing-Ingenieur beschuldigte inzwischen vor dem US-Kongress das Unternehmen, bei der Sicherheit gespart zu haben.
Auch wenn alle Prüfungen positiv abgeschlossen sind – ein neuer Name für den Jet wird das Vertrauen nicht wiederherstellen.