Ein Wiener Sessel erobert die Welt
Ausstellung. Ein schwindelerregender Sessel-Parcours im MAK beschreibt die rasante Erfolgsgeschichte des Wiener Möbelimperiums Thonet, 200 Jahre nach seiner Gründung.
Eine ganze Welt geht einem auf, hört man heute den Namen Thonet. Katapultiert er einen doch zurück in die große Zeit der Wiener Kaffeehäuser, deren Erscheinungsbild so stark vom eleganten Rund der legendären Bugholzsessel geprägt war. Die ganze Welt ging damals, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch der Firma Thonet auf – als der 1796 im rheinischen Boppard geborene Tischlersohn Michael Thonet von seiner neuen Heimat Wien aus ein bis damals unvergleichliches internationales Firmenimperium mit Billigmöbeln aufzog. Bis nach Südamerika.
Gleich am Beginn der großen MAK-Ausstellung zur 200-Jahr-Feier der ThonetTischlerei steht eines der Erfolgsgeheimnisse: der Nachbau einer Transportkiste, in der bis zu 60 Sessel verschifft bzw. mit dem neu ausgebauten Bahnnetz verschickt werden konnten. Zerlegt in Einzelteile, die nur noch verschraubt werden mussten. Allein bis 1930, so die Firmenchronik, konnten so 50 Millionen vom „3-Gulden“- oder auch „Konsum“-Sessel genannten Modell Nr. 14 verkauft werden. Zwei schlichte Bögen bilden die Lehne, die kreisrunde Sitzfläche ist aus Korbgeflecht, die Füße werden mit einem Ring stabilisiert.
Jeder kennt diesen genial schlichten Sessel, der schon im 19. Jahrhundert bis nach Südamerika reißenden Absatz fand. In sieben Fabriken im heutigen Tschechien, Ungarn, Russland und in Frankenberg (Deutschland) wurde produziert, in allen wichtigen Weltstädten gab es Niederlassungen. Der Sessel ist die Designikone der beginnenden Möbelindustrialisierung.
Ihm bzw. dem Thonet-Unternehmen zu Ehren haben die Kuratoren Sebastian Hackenschmidt vom MAK und Gastkurator Wolfgang Thillmann jetzt ein „Sessel-Ballett“arrangiert, wie MAK-Direktor Christoph Thun-Hohenstein es ausdrückt. Mit beeindruckenden 240 Tänzern sozusagen, aus dem hauseigenen Corps und wertvollen Leihgaben. Die ganze obere Ausstellungshalle ist voller Sessel. Die Choreografie war diffizil, denn man versuchte nicht nur eine chronologische Abfolge zu erzielen, sondern immer auch thematisch aufzuzeigen, wie und wo Thonet mit seinen technischen Neuerungen das Möbeldesign teils bis heute beeinflusste. Das geht vom Lochmuster in den Rückenlehnen (Roland Rainers Stadthallen-Sessel!) bis zur Leichtigkeit der späteren Stahlrohr-Freischwinger, von den Re-Interpretationen der Nachkriegs-Architekturavantgarde von Krischanitz bis Czech bis zu so exaltierten Stücken wie der völlig fantastisch über Kopf ausschwingenden LassoVersion des Sessels Nummer 8 vom Wiener Designerinnen-Duo Polka.
Gesenkten Kopfes mäandert man also teils schwindelerregend dem laufstegartigen Podest entlang, auf dem die Sessel dicht an dicht aneinandergereiht wurden. Unter ihnen: grünes Wirtshaus-Linoleum. Über ihnen: spalierartige Bögen. Dieser Ablauf kann schon einen ordentlichen Zug bekommen, was durchaus beabsichtigt ist: Vergleiche mit einem Fließband und einer Fabrikshalle wären durchaus kein Zufall, so die Kuratoren. Spielt schließlich der Industriefaktor bei der Betrachtung des Thonet-Imperiums eine wesentliche Rolle.
Rationalisierung und Funktionalität hatte auch Effekte auf die Formensprache: Obwohl der Zeitgeschmack noch der historistischen Formenvielfalt frönte, ging man bei Thonet ans Reduzieren. Es ist spannend zu sehen, wie der Entwerfer Michael Thonet aus den ersten noch verspielteren Sesseln für die Wiener Palais Liechtenstein, Schwarzenberg und Palffy zur Serienproduktion gelangte. Als entscheidendes Jahr für den Erfolg stellte sich allerdings 1856 heraus, als der angeblich von Metternich persönlich nach Wien eingeladene Geschäftsmann sich das Patent für die Massivholzbiegung sicherte. Als dieses abgelaufen war, begann die Konkurrenz aber zu kopieren, was das Zeug hielt. Die Firmen Fischel oder Kohn waren das hauptsächlich. Wobei man gerade vor vielen Sessel von Letzterer staunend stehen bleibt – um 1900 übernahm man hier mithilfe der Secessionisten die stilistische Führung.
Wirtschaftlich blieb Thonet davon lange unbeeindruckt. Was nicht verhinderte, dass man sich nach dem Ersten Weltkrieg erst wieder mit der Firma Kohn in der „Mundus“-Holding wiederfand. Der Beginn einer bis heute reichenden, komplizierten Firmengeschichte, gut im Katalog nachzulesen. Wie auch die Geschichte der heute so bedeutenden MAK-Thonet-Sammlung, die erst Ende der 60er (mit Beständen des Galeristen John Sailer) begann. Zwar wurden für das 1863 gegründete Museum natürlich Thonet-Sessel angekauft, aber zum Sitzen, nicht zum Bewahren. Von diesen über 100 Stück sind übrigens, so Hackenschmidt, heute nur noch zehn erhalten.