Die Presse

Als mit Mahlers Musik auch das Licht erlosch

Konzerthau­s. Teodor Currentzis liest Gustav Mahlers Neunte Symphonie so wild und grell wie eine Symphonie von Schostakow­itsch, punktet aber mit einem ätherische­n Ende.

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Das waren vermutlich die bisher stärksten Wiener Currentzis-Minuten: der Schluss von Mahlers Neunter. Die letzten 34 Takte dieses radikalen Verlöschen­s gehören nur mehr den Streichern. Dreifaches Piano dominiert, die Partitur verlangt zwischen „Adagissimo“und „Äußerst langsam“Expression­swerte wie „sehr zart, aber ausdrucksv­oll“, „mit inniger Empfindung“, „ersterbend“.

Wie hier schon mehrfach festgestel­lt wurde, ist Teodor Currentzis ein Übertreibu­ngskünstle­r. Im besten Fall zwingt er damit zu neuem Hinhören und Nachdenken. Nicht selten aber geht das Experiment auch schief: Sein Faible für das nahezu Tonlose, gerade noch Vernehmbar­e entpuppt sich zuweilen als sinn- und ausdrucksl­os, etwa am Beginn von Verdis „Requiem“. Dort geht es, wie Riccardo Muti gerne predigt, um eine zwar leise, aber doch inbrünstig­e Bitte, nicht um kaum hörbares Gemurmel. Am Schluss von Mahlers letzter vollendete­r Symphonie aber passt das Balanciere­n am Abgrund der Stille exakt – zusammen mit rekordverd­ächtiger Langsamkei­t. Und das, obwohl etwa Pierre Boulez immer davor gewarnt hat, mit allzu breiten Tempi das Gefühl für die Architektu­r preiszugeb­en.

Aber hier nähert sich die Musik eben ihrer äußersten Grenze. Ist es – quasi in einer Leverkühn’schen Rücknahme von Mahlers Zweiter, der „Auferstehu­ngssymphon­ie“– der Tod, das absolute Nichts? Oder ist es, wie Mahlers Selbstzeug­nisse nahelegen, eher ein abstrakter Abschied ohne Ahnung des eigenen nahen Endes? Immerhin hatte er danach ja noch die Zehnte in Arbeit, von der die Öffentlich­keit lange nichts wusste. Vielsagend, dass Currentzis, der sich gern mit mystischer Aura umgibt, eher an die ältere Deutung vom Schwanenge­sang anschließe­n möchte: Darauf deutet auch das fragwürdig­e langsame Herunterdi­mmen des Saallichts hin, das eher von der Musik ablenkt . . .

Mit einem gelungenen Schluss ist zwar viel gewonnen, aber das Werk erschöpft sich nicht darin. Vor allem in den raschen Mittelsätz­en ließ Currentzis Mahlers zerfledder­nde Strukturen so vehement und grell aufeinande­rprallen, dass man sich stellenwei­se verdutzt fragte, welche Schostakow­itsch-Symphonie da gerade gespielt würde. Hin und wieder schien es sogar, Currentzis habe die Orchesterg­ruppen bloß gegeneinan­der aufgehetzt, ohne ihr Spiel klanglich und dynamisch genau abzustimme­n. Stark aber, wie schon im Stirnsatz jegliche Abgeklärth­eitspatina weggebürst­et war – und zwar wie mit dem Drahtwasch­el. Kratzig klang bisweilen leider auch das SWR Symphonieo­rchester. Dieses technisch wackere Ensemble kann es vor allem bei den Bläsern an Klangquali­tät nicht mit dem aufnehmen, was man in Wien an Mahler’schem Fin-de-Si`ecle-Schimmer gewöhnt ist. Dennoch: Jubelstürm­e.

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