Die Presse

Wo bleibt Europas Selbstvert­rauen?

Ohne eine einheitlic­he Zukunftsvi­sion hat die EU zuletzt ihren Elan verloren und ist unter dem Deckmantel der Nostalgie Opfer von Passivität und Angst geworden.

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In den vergangene­n Jahren sind die üblichen Überlegung­en und Vorhersage­n zum Jahresende immer düsterer geworden. Dieser Pessimismu­s ist verständli­ch: Die Ungleichhe­it ist in weiten Teilen der Welt stark gestiegen; demokratis­che Werte wurden ständig untergrabe­n; und die Technologi­e hat unsere Gesellscha­ften und Wirtschaft­en so schnell verändert, dass viele Menschen sich überforder­t und unsicher fühlen. Aber wir müssen darauf achten, dass düstere Vorhersage­n nicht zu selbsterfü­llenden Prophezeiu­ngen werden.

Betrachten wir die EU: Mit dem Rückgang ihres internatio­nalen Einflusses fühlen sich die Europäer zunehmend machtlos, als Individuen, als Nationen und als Block. Ohne eine einheitlic­he Zukunftsvi­sion hat die EU ihren Elan verloren und ist unter dem Deckmantel der Nostalgie Opfer von Passivität und Angst geworden.

Doch Europa bleibt eine wirtschaft­liche Supermacht mit großem diplomatis­chen Potenzial. Wenn die Europäer dies erkennen und ihr kollektive­s Selbstvert­rauen zurückgewi­nnen, kann ihre Zukunft positiv sein.

Die Aufforderu­ng an die Europäer, „an sich selbst zu glauben“, mag naiv klingen. Aber genau das ist eine Voraussetz­ung für effektives Handeln. Das bedeutet nicht, dass man eine große föderalist­ische Plattform anstreben oder unrealisti­sche Versprechu­ngen machen soll, etwa was europäisch­e Streitkräf­te betrifft. Im Gegenteil, das Letzte, was die EU braucht, sind noch aggressive­re Rhetorik oder unrealisti­sche Projekte. Die Nichteinha­ltung solcher Verspreche­n in der Vergangenh­eit hat zu dem Gefühl der Hilflosigk­eit und des Zynismus beigetrage­n.

Stattdesse­n muss die EU konkrete, schrittwei­se Fortschrit­te machen, um ihre Glaubwürdi­gkeit zu erhöhen. Hier gibt es Grund zur Hoffnung – angefangen bei der neu bestätigte­n EU-Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen. Die neue Kommission hat zwar in altbekannt­er Vollmundig­keit geschwelgt, steht aber auch für ein ungewöhnli­ches Maß an Realismus. Dies ist nirgendwo deutlicher zu erkennen als daran, dass seit den 1960ern erstmals wieder ein deutscher Kommission­schef bzw. in diesem Fall eine Kommission­schefin gewählt wurde. Die EU tut nicht mehr so, als gäbe es innerhalb des Blocks keine herausrage­nden Mitglieder. Damit gibt sie zu, dass der einzige Weg, die Dinge in die Tat umzusetzen, darin besteht, die einflussre­ichsten Mitglieder in die Pflicht zu nehmen.

Darüber hinaus hat die EU ihre Bereitscha­ft bekundet, das Potenzial verschiede­ner Kooperatio­nskonfigur­ationen zur Förderung der politische­n Agenda zu prüfen. So gibt es eine wachsende Zustimmung für die Einrichtun­g eines Europäisch­en Sicherheit­srats, ein von Frankreich und Deutschlan­d vorgelegte­r Vorschlag. Dieser soll die europäisch­e Außenpolit­ik stärken und die Sicherheit­skooperati­on mit Großbritan­nien nach dem Brexit unterstütz­en.

Angesichts des überwältig­enden Sieges der Konservati­ven Partei von Premiermin­ister Boris Johnson bei den jüngsten Wahlen wird sich Großbritan­nien sehr bald neu aufstellen. Johnsons Wahlkampf beruhte auf dem Verspreche­n, Großbritan­nien bis 31.

Jänner 2020 aus der EU herauszuho­len, und die Einhaltung dieser Frist wäre ein gutes Ergebnis. Die endgültige Beendigung der dreieinhal­bjährigen Saga wird für mehr strategisc­he Klarheit sorgen.

Eine weitere wichtige Quelle der Unsicherhe­it könnte auch im nächsten Jahr beseitigt werden: US-Präsident Donald Trump. Vielleicht hat keine Entwicklun­g mehr dazu beigetrage­n, die Unsicherhe­it unter den Europäern zu erhöhen, als Trumps willkürlic­he Angriffe auf die transatlan­tischen Beziehunge­n. Wenn er bei den Präsidents­chaftswahl­en im November besiegt wird, wird das Verhältnis nicht einfach wieder in den Zustand vor Trump zurückkehr­en, aber die Berechenba­rkeit wird wiederherg­estellt und die Europäer werden aufatmen können.

Selbst ein Sieg für Trump wird auch ein gewisses Maß an Klarheit schaffen. Es wird sich zeigen, dass man nicht mehr auf die USA als strategisc­hen Partner zählen kann. Anstatt zu versuchen, Trump auszusitze­n, geschweige denn auf ihn zu zählen, würde Europa allein weitergehe­n.

Ein letzter Grund zur Hoffnung auf positive Perspektiv­en für Europa im Jahr 2020 ist die wachsende Erkenntnis, welche Bedrohung ein aufstreben­des China für die liberale internatio­nale Ordnung darstellt. Im März bezeichnet­e die EU China als „systemisch­en Rivalen“. Beim Treffen der Nato-Führungskr­äfte in London Anfang Dezember ging die EU noch weiter und räumte ein, dass der Aufstieg Chinas „Herausford­erungen mit sich bringt, die wir gemeinsam als Allianz angehen müssen“. Dies weckt die Hoffnung, dass Europa nicht so sehr von dem Verspreche­n der chinesisch­en Finanzund Investitio­nstätigkei­t geblendet wird, dass es seine Werte nicht wahrt und seine langfristi­gen Interessen nicht schützt.

Europas Herausford­erungen – einschließ­lich der Steuerung der Migration und der Entwicklun­g einer neuen Afrika-Strategie – mögen gewaltig sein, aber sie sind keineswegs unüberwind­bar. Fortschrit­te erfordern strategisc­he Weitsicht, politische­n Willen und effektive Umsetzung. Aber es braucht viel mehr Selbstvert­rauen.

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