Die Presse

Türkis oder Grün: Wer sind die wahren Christlich-Sozialen?

Es könnten künftig zwei Parteien miteinande­r koalieren, deren Schnittmen­ge auch ein Konkurrenz­merkmal ist: die Botschaft von Jesus Christus. Die alte Streitfrag­e zwischen rechts und links: Liegt Nächstenli­ebe in der Verantwort­ung des Einzelnen? Oder soll

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Weihnachte­n ist die Zeit, in der am meisten gekauft wird. Doch es muss nicht immer teuer, neu und von weit weg sein (. . .). Am wertvollst­en ist immer noch die gemeinsame verbrachte Zeit.“Was auch aus der Predigt eines Pfarrers sein könnte, ist aus einem aktuellen Facebook-Posting von Werner Kogler, dem Grünen-Chef.

Vor einem Jahr sagte er in einem „Presse“-Interview: „Türkis geht sich im Vatikan heute nicht mehr aus.“Eine Anspielung auf die Haltung von Papst Franziskus in Migrations- und Sozialfrag­en. „Wer Familien zerreißt und Ausbildung­en zerstört – ich frage mich, warum die Türkis-ÖVPler eigentlich noch alle in die Kirche rennen.“Sprach Werner Kogler, selbst Mitglied der katholisch­en Kirche.

Sind die Grünen heute die wahren Christlich-Sozialen? Oder ist es nach wie vor die ÖVP, der präsumtive Koalitions­partner?

In der Frage der Migrations- wie auch der Sozialpoli­tik war der Paarlauf zwischen den Grünen und der Kirche, insbesonde­re der Caritas, in der jüngeren Vergangenh­eit offensicht­lich. Auch bei den Personalia zeigte sich diese Annäherung. Der spätere Grünen-Bundesgesc­häftsführe­r Stefan Wallner war zuvor Generalsek­retär der Caritas gewesen, die heutige Wiener Grünen-Chefin, Birgit Hebein, arbeitete lang bei der Caritas, die Grüne Judith Schwentner kehrte nach Verlust des Parlaments­mandats wieder dorthin zurück. Mittlerwei­le ist sie grüne Stadträtin in Graz.

In der ÖVP sieht man sich selbst jedoch weiterhin als die Bewahrerin des Christlich-Sozialen. So sei es eben im Sinne des Gerechtigk­eitsbegrif­fs christlich-sozial, jene zu unterstütz­en, die Leistung erbringen und das Sozialsyst­em finanziere­n. Auf diesem Konzept fußt beispielsw­eise auch das Kindergeld plus. Ziel könne es nicht sein, dass sich der Mensch staatlich alimentier­en lasse, sondern ihm müsse auf dem Weg zur Eigenständ­igkeit geholfen werden. Das Sozialsyst­em soll Sprungbret­t sein, nicht Hängematte.

Es ist die alte Streitfrag­e zwischen rechts und links: Ist es dem Einzelnen überlassen, Nächstenli­ebe zu üben, also Caritas im eigentlich­en Sinne – beziehungs­weise „Charity“, wie das die Amerikaner nennen würden –, oder ist es die vorrangige Aufgabe des Staats, für Umverteilu­ng zu sorgen? Da lässt Jesu Botschaft jedenfalls Interpreta­tionsspiel­raum.

Die Entstehung linker Bewegungen ging zwar oft mit einem Kampf gegen die Kirche einher, deren Botschaft hat diese aber sehr wohl inspiriert. Den Weg zur Russischen Revolution ebneten etwa auch sozialrefo­rmatorisch­e orthodoxe Priester.

Auch die Entstehung der Christlich-Sozialen hierzuland­e war sozialpoli­tisch begründet – um den „ausbeuteri­schen“Liberalen etwas entgegenzu­setzen. Die Volksparte­i nach 1945 brachte das Christlich-Soziale und das Liberale aber zusammen, gemeinsame Grundlage war nun die soziale Marktwirts­chaft. Man wird nicht fehl in der Annahme gehen, dass sich heute auch Werner Kogler als deren Erbe sieht. Als ÖVP-Prominenz heuer im November „30 Jahre ökosoziale Marktwirts­chaft“feierte, schaute auch der Grünen-Chef vorbei.

In der ÖVP des Sebastian Kurz spielt das religiöse Element heute eine untergeord­nete Rolle. Auch der katholisch­e Cartellver­band hat stark an Einfluss verloren. Nicht zuletzt in der Asyl- und Migrations­frage wurden altruistis­che Bibelbotsc­haften durch breitenwir­ksame Realpoliti­k ersetzt. Bei den Wählern sollte sich das auszahlen. Während die christdemo­kratische Parteifreu­ndin Angela Merkel in Deutschlan­d weiterhin Politik entlang der Bibelbotsc­haften machte und dann bei Wahlen an Zustimmung verlor und die AfD neben sich groß werden sah, legte Sebastian Kurz seit der Migrations­krise 2015 bei zwei Wahlen zu – auf Kosten der FPÖ.

Was würde Jesus heute wählen? Möglicherw­eise Grün. Allerdings würde man mit Jesus heute wohl auch keine Wahl gewinnen. Außer in den USA vielleicht. Aber da auch nur in der „Charity“-Version.

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