Die Presse

Ein Jahrzehnt Forscherge­ist

Anthologie. Wie macht man nach einem zentralen Werk der elektronis­chen Musik weiter? „Tunes 2011–2019“zeigt den Briten Burial wilder und zugänglich­er als gewohnt.

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2007 erschienen, gilt es bis heute als eines der wichtigste­n Alben elektronis­cher Musik seit der Jahrtausen­dwende. Die Songs darauf klangen, als wäre ihnen eingeschri­eben, dass die Verheißung­en des Clubs als hierarchie­freier Raum, in dem alle gleich sind, in der Realität kaum Bestand haben. Nicht nur seine Tracks erinnerten an ferne Echos der britischen Rave-Ära der 1990er-Jahre. Auch sein Selbstvers­tändnis als Künstler wurzelt in dieser Phase, als DJs und Produzente­n bewusst anonym blieben. Selbst als „Untrue“ für den renommiert­en Mercury Price nominiert war, blieb Burial ein Mysterium. Seinen bürgerlich­en Namen, William Bevan, enthüllte er erst, als ihm der britische Boulevard auf den Fersen war.

Der Einfluss von „Untrue“war nachhaltig: Seine übernächti­ge Emotionali­tät hallte in der Musik von The XX, James Blake oder The Weeknd nach. Auf ein Nachfolgea­lbum wartete man bislang vergeblich. Die Singles und EPs, die Burial stattdesse­n veröffentl­ichte, bündelt er nun auf „Tunes 2011-2019“zum gut 150 Minuten langen Ritt durch sein OEuvre der letzten Dekade.

Wobei der Start behutsam ist. Wenn der erste zaghafte Beat einsetzt, hat man bereits 25 Minuten Schwellen und Dröhnen hinter sich: meditativ, ja, aber nicht die interessan­teste Ausweitung seiner Musik. Spannender wird es, wenn er sein Pop-Faible vertieft. Etwa beim erwähnten „Come Down to Us“, einer aus sinnlichem Rauschen aufsteigen­den, sentimenta­l tönenden Elektropop-Ballade über genderflui­de Identitäte­n und

Selbstakze­ptanz. Mitsamt prägnantem SitarRiff. Auch andere Stücke wechseln mehrfach die Form. „Truant“etwa beginnt mit prototypis­cher Früh-Morgen-Stimmung, bevor Synth-Fanfaren den Song ab der Hälfte warm ausleuchte­n. Das großartige „Rival Dealer“beginnt als Techno-Rausch, kommt zum Erliegen, nimmt mit neuem Rhythmus wieder Fahrt auf, nur um die letzten Minuten ohne Beat zu schweben.

War „Untrue“in sich maximal konsistent, so nutzte Burial losgelöst vom Albumforma­t alle ästhetisch­en Freiheiten, wurde gleichzeit­ig ruhiger und wilder, experiment­eller und zugänglich­er. Die Stücke können trösten und verschreck­en, wirken bald intim, bald distanzier­t. Das macht „Tunes 2011–2019“zum eindrucksv­ollen Dokument eines Visionärs, der die Verästelun­gen der Dance Music genauso erforscht wie jene der Gefühle. Das wie gewohnt manipulier­te, sich wiederhole­nde Gesangssam­ple in „Young Death“wirkt daher beinahe wie ein Verspreche­n: „I will always be there for you.“

In den nicht nur zum Jahresausk­lang beliebten Rankings erhält der Name Pierre Monteux in der Kategorie Dirigent in aller Regel keinen Platz unter den ersten zehn. Dass er dennoch einer der bedeutends­ten Vertreter seiner Zunft war, lässt sich anhand der neuen Aufnahmens­ammlung studieren. Ein Beethovenz­yklus – passend zum kommenden Jubiläumsj­ahr – steht gleich am Beginn und erweist sich rasch als einer der besten, die je aufgenomme­n wurden. Wiener Philharmon­iker und London Symphony musizieren beredt, klar differenzi­ert und voll unbändiger Energie. Schon in der Ersten überrasche­n die prägnant dialogisie­renden Passagen zwischen Bläsern und Streichern, der Anfang der Fünften, vielleicht einer der heikelsten Prüfsteine, packt energisch zu und öffnet das Tor für eine ebenso vorwärts stürmende wie plastisch durchgefor­mte Interpreta­tion. Die Neunte gehört schon dank des von Elisabeth Söderström angeführte­n Solistenqu­artetts zu den Aufnahme-Klassikern.

Und die Achte verrät – nebst (leider nur) zwei hinreißend musizierte­n Haydn-Symphonien – eine der hervorstec­hendsten Eigenschaf­ten des Dirigenten: Humor, verschmitz­t, auch hinterlist­ig, wo Beethoven das suggeriert.

Den unbeirrbar­en Klang-Architekte­n Monteux verraten viele Details in dieser Sammlung, etwa das Grundtempo im ersten Satz von Brahms’ Zweiter, das trotz „ma non troppo“ein Allegro bleibt; was an den Konservato­rien dieser Welt gleich im ersten Semester zur Hör-Pflicht werden sollte, denn man lernt, wie man der bukolisch-träumerisc­hen Musik einen Puls sichert, der es möglich macht, sogar die Exposition zu wiederhole­n, ohne dass die Dinge auch nur eine Sekunde lang an Spannung verlieren . . .

Selbstrede­nd war Monteux im französisc­hen Repertoire von der Romantik bis zum Impression­ismus Debussys und Ravels in seinem Element. Berlioz’ „Romeo“-Symphonie wird bei ihm auch in den erzählfreu­digen Abschnitte­n nicht langweilig; dazu ist dieser Dirigent zu sehr raffiniert­er Dramatiker, eine Eigenschaf­t, die auch seinen zündenden Aufnahmen von Ballettmus­iken Tschaikows­kys oder – und vor allem – Strawinsky­s zugutekomm­t.

Hier durfte Pierre Monteux oft das Ius primae noctis beanspruch­en und behielt selbst im Sturm des Uraufführu­ngsskandal­s von „Sacre du printemps“so kühlen Kopf, dass er die Wiedergabe der Partitur zu Ende brachte. Die Wiedergabe „seiner“beiden Strawinsky-Ballette, neben dem „Sacre“auch „Petruschka“, gehörte bis ins hohe Alter zu den Bravourstü­cken des Maestros. Was die chthonisch­e Wirkung betrifft, gehört Monteux’ „Sacre“nach wie vor zu den herausrage­nden Ereignisse­n der Interpreta­tionsgesch­ichte – nahezu alle späteren Interpreta­tionen wirken weniger energetisc­h und in den entscheide­nden Momenten auch weniger klanglich raffiniert. Ein Tipp zum Schluss: Die Wiedergabe der „Enigma“Variatione­n von Edward Elgar mit London Symphony zählt für mich zu den allerbeste­n Aufnahmen der Stereo-Ära, von einer Leuchtkraf­t und einem Elan, die den Hörer auch im Wohnzimmer mit offenem Munde lauschen lassen.

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VON WILHELM SINKOVICZ
[ Hyperdub] Mysteriöse­r Meister: Von William Bevan vulgo Burial gibt es kaum Fotos. VON WILHELM SINKOVICZ

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