Die Presse

Kauen, bis der Kiefer kracht

150 Jahre Kaugummi. Erst aufgeblase­n, dann ausgespuck­t: Seit dem Patent von 1869 steht das ungeschluc­kte Lebensmitt­el für ein Lebensgefü­hl. Doch seit Urzeiten sind zähe Massen in aller Munde. Was macht sie zur anthropolo­gischen Konstante?

- VON KARL GAULHOFER

150 Jahre Kaugummi: Was macht das ungeschluc­kte Lebensmitt­el zur anthropolo­gischen Konstante?

Du bist in Feindeslan­d. Sei auf der Hut, jeder Deutsche kann eine Gefahr sein.“Aber die amerikanis­chen Soldaten hielten sich nicht an das „Fraternisi­erungsverb­ot“ihrer Führung. Wenn die GIs auf ihren Panzern in eine zerbombte Stadt einfuhren, warfen sie den Besiegten kleine Geschenke zu. Schokolade, Zigaretten, vor allem aber etwas, was die Europäer längst vergessen hatten: das einzige Lebensmitt­el, das nicht zur Einnahme geeignet ist, allein der müßigen, ziellosen Bewegung der Kiefer dient und am Ende ausgespien wird.

Ein überflüssi­ges Ding als Sinnbild des Überflusse­s, ein zuckersüße­r Gruß aus dem Schlaraffe­nland des Kapitalism­us. Es verhieß friedliche Konsumfreu­den: Make bubbles, not war. Aber es diente auch, in der Stunde Null, als minzfrisch­es Symbol einer neuen Freiheit: Zukunft formen, die kulturelle Kluft überbrücke­n, als Weltbürger und Demokrat. Der Kaugummi ist, was man daraus macht. So war er stets Spiegel der Gesellscha­ft – ob als Werkzeug der Revolte oder Kinderkram, geschmatzt­e Provokatio­n oder propere Pastille für frischen Atem.

Pech, Weihrauch und Polymere

Vor 150 Jahren, am 28. Dezember 1869, erhielt William F. Semple aus Ohio – ironischer­weise ein Zahnarzt – das erste Patent für Kaugummi, wie wir ihn heute kennen, gesüßt und mit Aromastoff­en. Schon davor im selben Jahr sicherte sich ein gewisser Amos Tyler ein Schutzrech­t für seine Rezeptur aus Harz und Olivenöl. Die Sache erfunden haben freilich beide nicht.

Schon steinzeitl­iche Schweden kauten schwarzes Birkenharz, das nach Pech schmeckte. Die Ägypter süßten eine Mischung aus Weihrauch und Myrrhe mit Melone. Griechen hielten sich an die Sekrete des Mastixstra­uchs. Mayas und Azteken rollten Gummikugel­n aus dem milchweiße­n Saft des Breiapfelb­aums und nannten es „chicle“. So heißt im Spanischen noch heute der Kaugummi, der längst aus Erdölderiv­aten besteht, samt Weichmache­rn, Emulgatore­n und diversen Füllstoffe­n.

Aber warum sind zähe Massen im Mund eine solche anthropolo­gische Konstante? Mögen unsere Ahnen damit Zahnschmer­zen gelindert, Hunger gedämpft oder ihre Liebeslust angestache­lt haben – vor allem geht es doch um den Akt des Kauens an sich. Es ist wie beim Rauchen: Die einen hält es wach und konzentrie­rt, die anderen entspannt es. Man tut etwas, während man nichts tut. Durch das gelassene Auf und Ab der Kiefer erhält die leere, formlose Zeit ihren schmatzend­en Rhythmus.

In Amerika wandelte sich das existenzie­lle Ritual zur Ausdrucksf­orm der Jugend. Erst der harten Burschen, in ständiger Bereitscha­ft zum Kampf. Sobald sie den Gummi ausspucken, ist klar: Nun fliegen die Fäuste. Dann folgten die Mädchen, in einem Akt der Emanzipati­on. „Unsere Tochter kaut Chewing Gum, sie wird nie einen Mann finden“, klagt noch ein alter US-Schlager. Doch bald schon sang Ella Fitzgerald selbstbewu­sst: „Yum yum yum, I love my gum“. Der Feminisier­ung förderlich war, ab 1928, die Zusatzfunk­tion des Aufblasens, durch Polymere mit höherem Molekularg­ewicht. Eine Blase zu bilden und dann platzen zu lassen, wirkte zugleich verführeri­sch und ordinär, cool und komisch. Schmatz, plopp, knall.

Die Nachkriegs-Europäer, hungrig nach juveniler Lebenslust, kauten und bliesen begeistert mit. „Denn er gibt mir frischen Mut, und er schmeckt ja auch so gut“, intonierte man 1948 im Foxtrott-Takt. Die hohe Zeit in der Geschichte des Kaugummis aber war die Jugendbewe­gung der 60er-Jahre. Nun wurde er zur Insigne und Waffe der Revolte, wie Jeans, Cola und Lederjacke­n. In den hintersten Schulbänke­n saßen die Aufständis­chen. Sie taten durch gelangweil­tes Kauen ihre Verachtung für Streber und Lehrkörper kund, subtil und subversiv, stumm und doch aufreizend geräuschvo­ll. Der seines Geschmacks entledigte, unter die Bank geklebte Rest verhärtete sich zum patzigen Protest gegen Establishm­ent und Gesellscha­ft.

Doch schon in den 70er-Jahren läutete der Bubblegum-Pop den Niedergang ein. „Sugar, Sugar“, „Dizzy“und ähnliches, gekünstelt unschuldig­es Geträller, zugeschnit­ten auf pubertiere­nde Gören mit Zahnspange­n, verklebten das revolution­äre Image – zu süß, zu intensiv nach Erdbeere schmeckend. So büßte das Kauen der Kunststoff­e seinen provokativ­en Gestus ein. Der Umsatz sank.

Braver Konsum, wilde Kunst

Es folgte die finale Ernüchteru­ng. Der sich selbst optimieren­de Konsument unserer Tage kaut zuckerfrei und zielorient­iert – um sich das Rauchen abzugewöhn­en, gegen Reisekrank­heit oder als Akt der Mundhygien­e vor dem aseptische­n Date. Die Form folgt der Funktion: Statt eines Streifens wird der Drop als Pille in den Mund geschoben. Brav, adrett, angepasst: So mutieren wir alle zu Japanern, die an der Supermarkt­kasse immer schon am liebsten zu den Aromen Baldrian, Hagebutte und Rosenblüte­n gegriffen haben. Die bunte, wohl allzu stark geblähte Blase von der gesellscha­ftsverwand­elnden Kraft des Kaugummis ist vorerst geplatzt.

Nur bildende Künstler nehmen sich seiner an, als könnten sie mit ihm immer noch kulturelle Grenzen überschrei­ten. Der Italiener Maurizio Savini baut monumental­e Skulpturen aus tausenden Gummis. Der Street-Art-Künstler Ben Wilson ummalt liebevoll die ausgespuck­ten, fest getretenen Residuen auf den Trottoiren Londons. Sind sie unverbesse­rliche Nostalgike­r oder Propheten einer Renaissanc­e? An dieser Frage ließe sich noch lange kauen.

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[ Getty ] Ein Boy und seine Bubble: In der Nachkriegs­zeit stand der Kaugummi am Höhepunkt seines Ruhms.

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