Leitartikel von Köksal Baltaci
Der Bedarf an Fachkräften steigt, aber es fehlen sowohl Ausbildungsstellen als auch Bewerber. Die Dienstleistung am Menschen verdient mehr Anerkennung.
Je länger man darüber nachdenkt, desto treffender ist der Vergleich, den Caritas-Präsident Michael Landau kürzlich gezogen hat, um die Pflegesituation in Österreich zu beschreiben. Als Metapher für das Leben bemüht er dabei einen Langstreckenflug.
Der Start ist die Geburt. Alle sind aufgeregt, die Crew hoch konzentriert, nichts wird dem Zufall überlassen, Komplikationen kommen so gut wie nie vor. Ähnlich verläuft der Steigflug – als Pendant für das Heranwachsen. Bis die Maschine ihre Flughöhe erreicht hat, die Anspannung nachlässt und die Reise ihren Lauf nimmt – hier und da mit ein paar Turbulenzen, die schon einmal stärker ausfallen können, aber bei einem längeren Flug nichts Ungewöhnliches sind. Die Betreuung an Bord ist gut. Zu essen und zu trinken gibt es genug, auch das Unterhaltungsprogramm bietet so einiges. Und wer in der Business Class sitzt, hat von allem ein bisschen mehr. Aber auch diese Passagiere müssen aussteigen, wenn das Flugzeug sein Ziel, also den Tod, erreicht hat.
Irgendwann endet schließlich jede Reise – und eigentlich sollte sie mit derselben Konzentration und Entschlossenheit enden, wie sie begonnen hat. Aber was, wenn die Crew mitten im Sinkflug, in diesem Beispiel folgerichtig das Altern, die Nerven verliert, weil sie darauf nicht vorbereitet ist? Und mit Fallschirmen abspringt? Die Menschen in der Kabine sind plötzlich auf sich gestellt und rasen in einem unkontrollierten Sturzflug Richtung Boden. Viel Glück! So dürfte sich niemand sein Ende vorgestellt haben, als er voller Aufregung, Vorfreude und Erwartungen eingestiegen ist.
Zu dick aufgetragen? Natürlich. Darum geht es bei solchen Vergleichen ja auch. Aber der sprichwörtliche wahre Kern ist nicht zu leugnen. Denn bereits jetzt gibt es in Österreich – wie im restlichen Europa – einen dramatischen Personalmangel in der Pflege. Und während in den kommenden Jahren der Bedarf an Fachkräften sowie Ausbildungsstellen weiter steigen wird, finden sich gleichzeitig nicht einmal genügend Bewerber für die vorhandenen Ausbildungsstellen. Als derart unattraktiv gilt dieser Beruf, besonders bei jüngeren Menschen – obwohl die
Zufriedenheit unter Pflegekräften durchaus hoch ist, weil sich die meisten ihrer wertvollen Tätigkeit bewusst sind und im Alltag mit viel Dankbarkeit konfrontiert werden. Das öffentliche Ansehen des Berufs ist also schlechter als der Beruf selbst. An ein paar Schrauben zu drehen, wird daher nicht reichen.
Was es braucht, ist eine umfassende Neuaufstellung der Pflege und Pflegeausbildung inklusive Erleichterung des Zugangs für Neu- und Quereinsteiger sowie Unterstützung bei der Weiterbildung – etwa durch die Verlängerung der Bildungskarenz auf drei Jahre und Sicherstellung eines angemessenen Einkommens während der Weiterbildung durch die öffentliche Hand, wie das Michael Heinisch, Geschäftsführer der Vinzenz-Gruppe, fordert. Mit dem Ziel einer markanten Aufwertung des Pflegeberufs, die sich dann auch auf dem Gehaltszettel bemerkbar macht. Nur so wird dieser Beruf attraktiv genug, damit ihn junge Menschen erlernen und ausüben wollen.
Mehr Anerkennung durch eine bessere und längere Ausbildung sowie mehr Geld – das soll die kreative Antwort auf die jahrzehntealten Fragen des Pflegenotstands sein? Nein, das ist nur der erste Schritt, der in der Leistungs- und Bildungsgesellschaft, in der wir nun einmal leben, unumgänglich ist, damit Pflegekräfte in der Bedeutung und Hierarchie der Gesundheitsberufe aufsteigen. Eigentlich verdient die Dienstleistung am Menschen in der härtesten Zeit ihres Lebens viel mehr als das – und zwar die gesellschaftliche Wertschätzung, für deren Ausdruck wir bereits Gesten haben: Pflegekräfte sollten die Titelseiten von Magazinen schmücken. Nach ihnen müssten Straßen, Boulevards und Krankenhäuser benannt werden.
Zu viel der Ehre? Wer das denkt, dem sei ein Wochenende Freiwilligendienst in einem Pflegeheim geraten. Denn manche Dinge versteht man erst, wenn man sie gesehen, gehört, berührt und gerochen hat.