In der Umklammerung des Kreml
Russland. Die wohlhabende Teilrepublik Tatarstan hatte lange Jahre eine Sonderstellung innerhalb der Russischen Föderation. Doch politisch und kulturell verliert sie zusehends ihre Rechte.
Dass Tatarstan eine ausgeprägte regionale Identität hat, zeigt nicht zuletzt das Museum der Geschichte der tatarischen Staatlichkeit. Die mit technischen Spielereien aufbereitete Ausstellung im weitläufigen Kasaner Kreml erzählt die Geschichte des tatarischen Volks samt ihres regionalen Herrschaftsbereichs. Die Schau ist nicht damit zu Ende, dass der russische Herrscher Iwan der Schreckliche Mitte des 16. Jahrhunderts den Tatarenstaat – das Khanat – eroberte. Auch im späten 20. Jahrhundert suchte man abermals nationale Eigenständigkeit. Die tatarische Nationalbewegung Anfang der 90er entschied sich per Vertrag zum Kompromiss mit dem Kreml. Um diesen Deal geht es heute wieder. Diesmal stehen die Vorzeichen schlecht für die Tataren-Republik.
„Tatarstan super gut“, lautete Anfang der Nullerjahre ein schriller Elektroclash-Hit der tatarischen Sängerin SuperAlisa. Die 800 Kilometer östlich von Moskau gelegene Republik gibt sich selbstbewusst und modern. Kasan ist Schauplatz sportlicher und kultureller Großevents wie der Fußball-WM. Die Republik ist eine Erfolgsgeschichte im heutigen Russland. Sie illustriert, dass sich Russlands Regionen entwickeln können, wenn sie Freiheiten haben. Dazu beigetragen haben die Gas- und Ölvorkommen, die das teilstaatliche Unternehmen Tatneft fördert. Dank eines Deals mit Moskau bleiben mehr Steuereinnahmen als anderswo vor Ort. Tatarstan gilt als „Donor“im föderalen Budget. Die Republik unterhält eigene Vertretungen im Ausland. Das half beim Anwerben chinesischer und türkischer Investoren. Und das tatarische Oberhaupt darf sich – wie Wladimir Putin –
Präsident nennen.
Doch die Ära der Sonderrechte geht zu Ende. Der alte Vertrag zwischen Kasan und Moskau ist 2017 ausgelaufen. Der Kreml, der unter Putin seine Macht im Staat zentralisierte, wird ihn nicht verlängern. Amtsinhaber Rustam Minnichanow, der als starker Hausherr und unpolitischer Manager gilt, dürfte bei der nächsten Wahl im Herbst 2020 zwar wieder antreten (und siegen). Doch den Präsidententitel könnte er verlieren – und einfacher Republikschef werden, wie alle anderen auch. In Tatarstan sieht man das nicht gern. „Für viele hat der Präsidententitel eine hohe symbolische Bedeutung“, erklärt Journalist Wadim Meschtscherjakow von „Idel Realii“, News aus der WolgaRegion von Radio Free Europe. „Man hat Angst, dass das Zentrum Tatarstan etwas wegnimmt. Bisher hat man seine Freiheiten im autoritären Staat gut genützt.“
Neben dem politischen Spielraum schrumpfte zuletzt auch der kulturelle. Mit mehr als fünf Millionen Sprechern ist Tatarisch nach Russisch die zweitgrößte Sprachgruppe in der Russischen Föderation. In der Republik stellen die Tataren mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Russisch und Tatarisch sind Amtssprachen. Im russifizierten Kasan hört man selten Tatarisch; es wird vor allem auf dem Land gesprochen. Mit ein Grund, warum die Sprache im öffentlichen Leben einen niedrigen Status hat. Ihr rechtlicher Status wurde zuletzt geschwächt. Unterricht in Minderheitensprachen ist in Russland seit Juli 2018 nur noch auf freiwilliger Basis erlaubt. War er früher mit fünf Schulstunden für alle verpflichtend, ist er jetzt auf zwei Stunden begrenzt – und nur mit dem Einverständnis der Eltern möglich. Präsident Putin gab 2017 den Anstoß für dieses Gesetz.
Als „nicht durchdacht“kritisiert Pawel Schmakow diese Maßnahme gegenüber der „Presse“. Schmakow ist Direktor der Schule
„Sonne“, einer öffentlichen Schule für lernbegeisterte Kinder im Zentrum Kasans. Gerade hat die Schule ein neues Gebäude bezogen. Sie gilt als pädagogisches Vorzeigeobjekt der Republiksbehörden. Und doch haben diese dem Druck Moskaus nachgegeben: Im September 2017 wurde angeordnet, dass innert zwei Monaten ein Großteil der Tatarisch-Lehrer entlassen werden sollten. Bis heute findet Schmakow die Entscheidung verheerend – und hat sie nicht umgesetzt. „Das ist das Gegenteil von Wahlfreiheit“, sagt der 61-jährige stadtbekannte Querdenker. Putins Weisung interpretiert er als populistische Maßnahme für die ethnischen Russen, von denen viele dem Unterricht in Minderheitensprachen wenig abgewinnen können. Russland sei groß, aber die Tataren hätten nur eine Heimat – Tatarstan eben. „Es ist richtig, wenn hier alle in einem gewissen Maß Tatarisch können.“
In Schmakows neuem Schulgebäude gibt es selbstverständlich ein Tatarisch-Lernlabor. Die „Sonne“-Schule ist die einzige in Tatarstan, in der noch alle Kinder verpflichtend bis zu drei Wochenstunden Tatarisch lernen. Schmakow hat das mittels rechtlichem Kniff geschafft: Eltern, die ihre Kinder anmelden wollen, akzeptieren den speziellen Lehrplan. Für seine Hartnäckigkeit wurde der Direktor abgestraft. Unlängst hat er sogar Klage gegen das neue Gesetz beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. „Viele Pädagogen haben sich bei mir bedankt. Sie selbst haben Angst.“
Der Tatarisch-Unterricht an der Schule soll den Kindern Spaß machen. Eine Klasse lernt spielerisch die Legende von Prinzessin und Nationalheldin Sujumbike, der letzten Regentin des Kasaner Khanats. Viele der Schüler kommen aus gemischten Familien, doch die wenigsten haben zu Hause Tatarisch gelernt. Nur ihre Großeltern würden es sprechen, erzählt eine Schülerin. Ihre Sitznachbarin lernt Englisch und Chinesisch. Tatarisch sieht sie als „Bereicherung“.
Sujumbikes Geschichte nimmt übrigens ein tragisches Ende: Der russische Eroberer Iwan der Schreckliche wollte sie zur Frau nehmen. Sie bat ihn, einen Turm für sie zu bauen. Von diesem stürzte sie sich herab, um seiner Machtergreifung zu entgehen.