Die unterirdische Stadt von Helsinki
Finnland. Im Kriegsfall bietet Helsinki 650.000 Menschen Schutz unter der Erde. Im Untergrund ist eine ganze Stadt entstanden – mit einer Kirche, einem Schwimmbad, einem Museum und Einkaufszentren.
Jede Großstadt hat ihre Undergroundszene. Im Fall Helsinki gilt dies allerdings auch buchstäblich. Nicht nur nach oben, sondern tief in die Erde gräbt, sprengt und baut sich die 650.000 Einwohner zählende Hauptstadt Finnlands derzeit.
Rund 13 Millionen Quadratmeter groß ist die Schattenstadt Helsinkis, die bis zu 100 Meter und vier Stockwerke tief unter der Erde liegt. Schon jetzt könnte man dort im Grunde ein ganzes Leben ohne Sonnenlicht verbringen.
Die Stadt im Untergrund ist ein Produkt des Kalten Kriegs, vor allem der 70er- und 80er-Jahre. Bis heute hat jeder Finne ein gesetzliches Anrecht auf einen Luftschutzbunkerplatz im Kriegs- oder Krisenfall. Und deshalb kann das unterirdische Helsinki gegenwärtig bis zu 700.000 Menschen über einen längeren Zeitraum Schutz und Versorgung bieten. Das schaffen nur wenig Städte. Vor acht Jahren hat Helsinki dann einen Masterplan zum kräftigen Ausbau des gesamten Untergrundraums der Stadt verabschiedet. Gebaut wird im großen Stil mit staatlichen und privaten Mitteln.
Gesorgt ist auch für das Seelenheil. 1969 wurde die TemppeliaukionKirkko, die Tempelplatzkirche, als eines der ersten Gebäude unter der Erde gesprengt. Eine Kirche ohne Kirchturm, aber mit höhlenartigen Granitdecken. Inzwischen gibt es unter Helsinkis Erde rund 400 Einrichtungen. So liegen dort die im Kriegsfall besonders schützenswerten Energie-, Fernwärmeund Luftkühlungsanlagen der Stadt. Auch die nationalen Archive, Rechenzentren, ein See mit 35 Millionen Litern Kühl- und Trinkwasser und weiteren Reservoirs schlummern dort unten.
Neben etlichen nationalen Einrichtungen hat sich auch die Chemikalienbehörde der Europäischen Union inzwischen ein Stück Untergrund gesichert.
Für die Bürger gibt es Einkaufsstraßen mit Geschäften aller Art und Transportwegen für Warenlastwagen, Fitnessstudio, Konzerthalle, Saunen, eine Halle für Eishockey, dem Nationalsport der Finnen. Auch das Amos-Rex-Museum für Moderne Kunst, das einfach keinen ausreichenden Platz mehr in seinem zentral gelegenen überirdischen Altbau fand, existiert nun im Schattenreich. Sogar die Entsorgung von überirdischem Müll geschieht unterirdisch. Durch Klappen an der Oberfläche und Tunnel wird es ähnlich wie bei einer Flugzeugtoilette in die Tiefe gesaugt. Eine klassische Müllabfuhr ist da nicht nötig.
Durch die Stadt führen kilometerlange, mit Plastikpflanzen oder Kunst dekorierte unterirdische Fußgängerwege. „Demnächst kommen auch Fahrradwege“, sagt
Ilkka Vähäaho, Chef des städtischen Grundamts zur „Presse“. Psychologen haben mit Architekten Beleuchtungen installiert, die anheimelnd an Sonnenlicht erinnern. Strategisch wichtige Orte wie der Flughafen und Regierungseinrichtungen können unterirdisch erreicht werden. Die U-Bahnstationen sind besonders groß und tief angelegt, um als Bunker umfunktioniert zu werden.
Im Itäkeskus Viertel führt ein langer Gang in ein unterirdisches Schwimmbad. Der ehemalige Atombunker verfügt noch immer über meterdicke Doppeltüren und kann innerhalb von 72 Stunden zurück zu einem Schutzraum für 3800 Personen umfunktioniert werden. An der SchwimmbadKasse sitzt Tarja. Ob ihr nicht manchmal das Sonnenlicht fehlt? „Ja, schon“, sagt die 57-Jährige nachdenklich. „Aber wissen Sie, in Finnland gibt es das halbe Jahr über eh nicht so viel Licht. Im Winter ist es unwirtlich auf den Straßen – mit dreckigem Schnee, Glatteis und eisigem Wind. Und im Sommer ist es schön kühl hier in den Tunneln.“Im Sommerurlaub achte sie aber schon sehr darauf, Sonne zu tanken, sagt die Eintrittskartenverkäuferin.
In Zukunft soll auch ein richtiges Stadion für Eishockeyspiele und andere Großveranstaltungen in der Tiefe angelegt werden, zudem auch Bahnhöfe für eine Strecke, die durch einen 100 Kilometer langen Meerestunnel bis hin ins estnische Tallin führen soll.
Aber ergibt der Ausbau Helsinkis unter die Erde Sinn? Das nordische Land mit 16,3 Einwohnern pro Quadratmeter gehört zu den am dünnsten besiedelten Staaten der Welt. Helsinki ist mit 2787 Einwohnern pro Quadratkilometer nur halb so voll wie Berlin (4087) oder Wien (4570). Doch neben dem ungastlichen finnischen Wetter und der Angst vor Kriegen machen die Stadtplaner noch weitere Gründe für ihre unterirdische Bauwut geltend. „Helsinki steht auf uralten Granitgestein. Das ist sehr stabil und lässt sich relativ kostengünstig und gezielt aushöhlen“, sagt Ilka Vähäaho, der Chef des städtischen Grundamts.
Einmal auf eine bestimmte Temperatur erhitzt, wirkt das Gestein auch isolierend. Hinzu kommt die Erdwärme, die Heizoder Kühlkosten sehr niedrig halten. Die Decken in der Schwimmhalle etwa werden größtenteils einfach so gelassen wie sie sind – in unebenem Granit.
Ein großer Teil des Tunnelsystems bleibt freilich dem Militär und essenziellen staatlichen Einrichtungen vorbehalten. Der Zutritt ist verboten, die Anlagen sind geheim. Finnland gehört keinem Militärbündnis an, steht also nicht unter dem Schutz der Nato. Die Geschichte des Landes ist konfliktreich. Das macht vorsichtig. Viele Finnen sind beunruhigt von aggressiven Tönen aus Moskau.
So menschenleer Helsinki immer noch ist: Die Stadt wächst zehn Mal schneller als Berlin. Auch diese Entwicklung trägt zum Ausbau der Unterwelt von Helsinki bei, den der Staat und private Investoren finanzieren. Der Stadtplanung verschafft das im wahrsten Sinn des Wortes Luft.
„Wir Finnen sind weitläufige Flächen ohne viel menschliches Gedränge gewöhnt Die meisten kommen vom Land. Wenn Gebäude unterirdisch sind, lässt das viel mehr Raum für Grünanlagen in der Stadt selbst“, erläutert Vähäaho. Alles, was kein Sonnenlicht brauche, Geschäfte zum Beispiel, könne genauso gut unter der Erde sein, sagt er. Ein Argument für die Untergrundstadt, das einleuchtet.