Dieser Teenie-Star ist gut gereift
Neues Album. Der 25-jährige Harry Styles, berühmt geworden als Sänger von One Direction, lässt die Welt an seinem Erwachsenwerden teilhaben.
Weltumarmender kann kein Album beginnen. Nach einem zierlichen Intro jubilieren Keyboards, Gitarren und ein Chor gleichzeitig, dann setzt Harry Styles’ Stimme ein: dringlich, elegant und ziemlich sexy. „You’re so golden, I’m out of my head, I know that you’re scared because hearts get broken . . .“Bald kommt Styles zum archimedischen Punkt seiner aktuellen Kunst: der Verletzlichkeit, die er angstfrei zelebriert: „I know you’re scared because I’m so open.“Der Sound dazu ist von jener leicht künstlichen Euphorie, die einst den LaurenCanyon-Folk und den California-Pop der Mittsiebzigerjahre geprägt hat. Barney Hoskyns hat sie gut beschrieben – im Buch „Hotel California“, in dessen Untertitel von „Cocaine Cowboys“die Rede war.
Auch Harry Styles hat naiv Drogen probiert, Kokain und psychedelische Pilze. Das habe er nicht als Flucht vor der Realität getan, sondern zu deren Intensivierung, erklärte er in einem Interview: Er habe einfach gespürt, dass die Zeit gekommen sei, ein wenig zu experimentieren. „Während der Tourneen mit One Direction habe ich nicht einmal Alkohol getrunken!“Auch eine Psychotherapie habe ihm geholfen.
Bereits mit 16 Jahren war Styles aus dem wirklichen Leben katapultiert worden: 2010 startete die Boygroup One Direction durch. Mit ihr wurde er zum vielfachen Millionär, was seine Realität markant verschoben hat. Ursprünglich aus dem Arbeitermilieu des englischen Städtchens Redditch gebürtig, hat er sich jetzt im schicken Kalifornien niedergelassen. Dort gefällt ihm „dieses permanente Feriengefühl“, das Leben unter all den Stars sei „movielike“. Er selbst hat 2017 in Christopher Nolans „Dunkirk“ein überzeugendes Filmdebüt als Soldat gegeben.
In den zwölf Liedern seines neuen Albums „Fine Line“lässt er allerdings die Rollenspiele sein, zeigt das, was man gemeinhin Authentizität nennt. Im folkigen Trennungssong „Cherry“fleht er seine französische Ex, das Model Camille Rowe, an, sie möge ihren neuen Freund ja nicht wie ihn „Baby“nennen; ans Liedende hat er gar eine Sprachnachricht seiner Verflossenen platziert: französisches Liebesgeflüster.
Charmant ist auch „She“, wo sich Styles in souligem Falsettgesang probiert. Quasi philosophische Zeilen wie „She lives in daydreams with me, she’s the first one that I see“leiten in ein Psychodrama, wo nicht klar wird, was zuerst da ist: das Bild der Frau oder die Frau selbst. Wenn er über die Subjekte seiner Begierde singt, verwendet Styles gern Blumen- und Obstmetaphern. Im verschummerten „Sunflower, Vol. 6“etwa, oder in „Watermelon Sugar“, wo er zu einem scharfen Gitarrenriff recht anzüglich erklärt: „I want your belly and that summer feeling.“Im hübsch pulsierenden „Adore You“attestiert er einer Verehrten einen „strawberry lipstick state of mind“.
Ob das seine weiblichen Fans lieber hören als seine Zweifel am seinem Status als Sexsymbol? Die Groupies hätten ihn von Beginn an irritiert, erzählt er. Als ihm die ersten in Schweden begegnet seien, habe er zum Gaudium seiner Bandkollegen gefragt: „Was wollen die denn? Sind die wirklich wegen uns da? Wir sind doch in Schweden!“
Mittlerweile ist ihm das Phänomen vertraut, aber noch immer nicht geheuer. Tapfer rebelliert er gegen sein Image als Sexsymbol, färbt sich die Fingernägel, zieht sich Glitzerzeug in Farben wie Flieder und Lachs an. Aber das hilft alles nicht. Die Girls mögen ihn noch immer. Vielleicht gerade, weil er sich Nachlässigkeiten wie Bartstoppeln und Lidschwere leistet. Auch die erotisieren. Am meisten aber tut das seine Singstimme. In den neuen Songs reicht sie deutlich über den Mainstream hinaus. So ist „Fine Line“ein Popalbum, das auch Connaisseure schätzen können. Es steckt voller Freiheitsverheißungen und grandioser Melodien. Dank ihm endet das Popjahr 2019 mit einem Rufzeichen.