Die Wiederkehr des russischen Leviathans
Russland. Der Politologe Sergej Medwedjew hat ein Buch über das Erstarken des Staats unter Wladimir Putin geschrieben. Putin sieht er als Vollender einer imperialen russischen Idee. Eine Begegnung in Moskau.
An Mittwochnachmittagen ist Sergej Medwedjew in einem Bürohaus am Moskauer Gartenring anzutreffen. Unten am Empfang gibt es keinen Hinweis, dass sich hier die Redaktion des vom USKongress finanzierten Senders Radio Swoboda befindet. Man will nicht unnötig auffallen. Das Radio ist von den russischen Behörden zum „ausländischen Agenten“erklärt worden. Ein paar Stöcke weiter oben gestaltet Medwedjew allwöchentlich seine Sendung „Archäologie“. Mit seinen Gästen unterhält er sich über die „ewigen Fragen des russischen Lebens“. Diese Woche: Ist russischer Spitzensport ohne Doping möglich?
Der 53-Jährige ist neben seiner Arbeit als Journalist Professor an der Moskauer Higher School of Economics und bekannt als kritischer Intellektueller, der gesamtgesellschaftliche Entwicklungen untersucht.
Auch dem russischen Präsidenten ist er ein Begriff. Wladimir Putin nannte ihn einmal einen „Spinner“. Es ging um die Frage, wem die Arktis gehöre. Medwedjew hatte sich für eine internationale Verwaltung des Gebiets ausgesprochen. Dem Kreml gefiel das naturgemäß nicht. Medwedjew, in seiner Freizeit Marathonläufer, nahm Putins Urteil sportlich: als „Auszeichnung“. Sein neues, nun auch in englischer Sprache erschienenes Buch „The Return of the Russian Leviathan“besteht aus kurzen zeitdiagnostischen Beiträgen. Gleichzeitig nimmt es die Zyklen der russischen Geschichte in den Blick.
Der titelgebende Leviathan spielt dabei eine zentrale Rolle. Das Meeresungeheuer des Philosophen Thomas Hobbes steht bei
Medwedjew für den starken russischen Staat. Genauer gesagt für dessen Rückkehr in das Leben der Bürger seit den Nullerjahren. Der allumfassende Machtanspruch des Staats habe sich nicht zuletzt im Sommer gezeigt, als die Moskauer Protestbewegung mit voller Wucht zerschlagen wurde. „Der Leviathan hat seine Macht auf den Straßen Moskaus gezeigt – in Gestalt von brutalen Polizisten. Er war auch in den Gerichtssälen, wo die Leute in Rekordzeit abgeurteilt wurden“, sagt Medwedjew. Effektivität könne man dem Apparat nicht absprechen: „Moskau ist nicht Kiew oder Jerewan. Hier ist ein Maidan unmöglich. Bei uns hat man Angst.“
Medwedjew weist auf zwei russische Besonderheiten hin: Einerseits stehe in Russland – anders als im Westen – der Staat im Zentrum der Geschichtsbetrachtung. „Wir sprechen nie über die Geschichte der Nation, des Volks oder des Landes, sondern stets über die Geschichte des Staats.“Zweitens trete eben diese Macht des Staats in Zyklen von Schwäche und Stärke zutage. 1917 und 1991 sind so gesehen Schwächephasen des russischen Staats. Anders die Stalin-Zeit und die Periode seit den Nullerjahren: Hier ist ein Erstarken der staatlichen Macht festzustellen. Die „archaische Macht“in Putins Staat beruhe wie früher auf Rohstoffvorräten. Die Institutionen sind Dekoration.
„In Russland ist Politik vollkommen abwesend – sie ist durch Putin ersetzt“, sagt Medwedjew. Die Gesellschaft habe ihre Autonomie verloren – sie wird durch Staatszuwendungen gefördert oder eben als „ausländischer Agent“gebrandmarkt. „Sie darf keine Kraft sein, die dem Staat entgegensteht.“
Der Politologe betrachtet Putin aus der Sicht eines Hegelianers. Der Langzeitpräsident habe den Lauf der Geschichte nicht verändert, sondern sei als Äußerung des Weltgeistes zu begreifen: „In der Geschichte Russlands musste sich Putin ereignen.“Putin als Vollender der imperialen Idee Russlands, dessen Regentschaft noch lang dauern wird.
„Habe ich Ihnen ein düsteres Bild gemalt?“, fragt Medwedjew einmal während des Gesprächs. Und wie! Wobei sein „Leviathan“in einem überraschend heiter-ironischen Tonfall geschrieben ist. Die Essays widmen sich vor allem Phänomenen aus der Euphorie-getränkten Ära nach der Krim-Annexion. In einem „Souveräne Unwegsamkeit“betitelten Bericht über eine Autofahrt von Moskau ins Baltikum auf fast nicht existenten Straßen begegnet dem Autor in einer entvölkerten Landschaft ein Schild: „Vorwärts Russland!“
Medwedjew schildert das Vordringen der Staatsmacht in vier Bereichen: im Raum, in der Symbolwelt, in Körper- und Erinnerungspolitik. Es sind Beiträge, die für all jene interessant sind, die sich für die Gemütslage Russlands jenseits der Schlagzeilen interessieren. In seinem Buch beschreibt Medwedjew das Aufbäumen des Leviathans als Farce. Mittlerweile hat er sein Urteil revidiert. „Blutige Farce“, nennt er es jetzt.