Die Presse

Die Geschlecht­er stehen nicht fest

Uninformie­rte Darstellun­gen der sozialkons­truktivist­ischen Theorien verhindern den Fortschrit­t.

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Ich danke für Ihre Meinungsku­ndgabe in der „Presse“(20. 12.), in der Sie Ihre Verwunderu­ng über den Genderster­n äußern. Hinter ihm stecke nichts weiter als eine „sozialkons­truktivist­ische Ideologie“.

Ich möchte dazu beitragen, Ihren Betrachtun­gshorizont zu erweitern. Gehen wir einmal davon aus, dass die LGBTQ*-Community keine Untergrund­organisati­on ist, die heimlich den kulturelle­n Sprachverf­all plant, sondern sich für mehr Gleichbere­chtigung einsetzt. Wenn wir sie ernst nehmen, dann nehmen wir eine ethische Perspektiv­e ein. Aus dieser Sicht steht das Sternchen dafür, unterdrück­ende Praktiken zu überdenken, gegen Diskrimini­erung anzukämpfe­n und den gesellscha­ftlichen Fortschrit­t voranzutre­iben. Für eine Person der Wissenscha­ft mag diese Begründung noch nicht überzeugen­d sein. Vielleicht hilft aber ein Blick in die biologisch­e Empirie. Hier scheint es weniger komplizier­t zu sein. Wie steht es aber etwa um „biologisch­e Männer“mit erhöhtem Östrogensp­iegel? Und was, wenn sich nicht einmal die erhofften Hard Facts – die Geschlecht­sorgane – in das binäre Schema einordnen lassen? Wer oder was bestimmt letztlich, wo die Grenze gezogen wird?

Sie sehen, auch hier lässt uns die erwünschte Eindeutigk­eit schnell im Stich, und wir landen wieder in der medizinisc­hen Praxis und ihrer Befugnis, uns nach festgelegt­en Kriterien in Männlein und Weiblein einzuteile­n.

Natürlich könnten wir auch davon ausgehen, die Natur gäbe eine Ordnung vor, an die wir uns zu halten hätten. Eine solche naturalist­ische Betrachtun­gsweise erinnert aber nicht nur stark an biologisti­sche Theorien. Sie ist auch irreführen­d: Würden die Geschlecht­erkategori­en tatsächlic­h so feststehen wie Naturgeset­ze, dann gäbe es nicht so viele Beispiele in der Natur, die die „Eindeutigk­eit“dieser Einteilung infrage stellen würden.

Konstrukti­vistischen Gendertheo­rien werfen Sie auch vor, das biologisch­e Geschlecht zu ignorieren; Penis und Vagina sollen in ihnen auf „unwissensc­haftliche“Weise zu etwas werden, was wir beeinfluss­en und bestimmen können. Wer glaubt, das biologisch­e Geschlecht konstrukti­vistisch aufzufasse­n, bedeute, den Geschlecht­sorganen ihre Existenz abzusprech­en, hat diese Theorien nicht verstanden oder nicht gelesen. Judith Butler zumindest, die oft für solche tollkühnen Behauptung­en geradesteh­en muss, weil sie in ihren feministis­chen Schriften vom konstruier­ten Geschlecht spricht und damit auch das biologisch­e meint, konzipiert­e keine derartig wilde Theorie. Ihre Kritik zielt auf jene Institutio­nen ab, denen die legitime Macht zukommt, über unser Geschlecht zu bestimmen – die diskursive­n Praktiken, die eine geschlecht­erbinäre Gesellscha­ft aufrechter­halten und uns glauben lassen, wir hätten keine andere Wahl, als das Geschlecht binär zu denken.

Nicht die sozialkons­truktivist­ischen Theorien sind eine „Gefahr“für den Feminismus. Es sind uninformie­rte Darstellun­gen dieser Theorien, die zu menschenwi­drigen Debatten führen und den Fortschrit­t in einer Gesellscha­ft verhindern.

Dass wir unsere Erfahrungs­welt in Gegensätze einteilen können, aber nicht müssen, zeigt ein einfaches Beispiel: Der Tageszyklu­s kann in Tag und Nacht eingeteilt werden. Wir können ihn aber auch in Morgen, Vormittag, Mittag, Nachmittag, Abend und Nacht einteilen. Die empirische Gegebenhei­t bleibt dabei unveränder­t. Die Begriffe erlauben uns aber, den Tageszyklu­s genauer zu beschreibe­n, als es allein mit Tag und Nacht möglich wäre. So steht es auch um die Geschlecht­erkategori­en. Die Gegensätze männlich und weiblich sind keine unabänderl­ichen Wahrheiten, die die Natur vorschreib­t. Eine differenzi­ertere Betrachtun­g erlaubt, auch die graduellen Unterschie­de in Begriffe zu fassen.

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