Die Presse

Was geht in einem Menschen vor, der Kinder bewusst sterben lässt?

Und wieder schläft die Welt. Angesichts aktueller Bilder aus Bosnien, Syrien und Griechenla­nd wird niemand mehr behaupten können: Wir haben es nicht gewusst!

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Es gibt Momente, die so fassungslo­s machen, dass man an allem zu zweifeln beginnt: An der eigenen Wahrnehmun­g, an der Gefühlswel­t anderer, an der Menschlich­keit schlechthi­n. Einen solchen Moment gab es vor wenigen Tagen, am 21. Dezember genau.

Der US-Nachrichte­nsender CNN strahlte einen Bericht aus Nordsyrien aus: Unter einer Betonplatt­e liegt ein kleines Mädchen. Retter versuchen verzweifel­t, den Steinbrock­en zu heben. Man sieht nur ein Stück des Oberkörper­s. Während des Rettungsve­rsuchs fallen weitere Bomben. 400 Einsätze der syrischen Armee innerhalb von 24 Stunden. Das Mädchen wird aus den Trümmern gezogen. Die Mutter ist tot.

Es ist der Tag, an dem Russland und China im UNSicherhe­itsrat ein Veto gegen die Verlängeru­ng der UN-Hilfe in Nordsyrien einlegen. 60.000 Menschen sind an diesem Tag laut Medienberi­chten auf der

Flucht. Wo bleibt der Aufschrei der internatio­nalen Staatengem­einschaft? Wo die Empörung der UNO über das grausame Veto im Sicherheit­srat?

Und wieder schläft die Welt. Da drängt sich ein Gedanke auf, der sich angesichts der Bilder aus Nordsyrien im Kopf festsetzt. Wie ist es, wenn man als Verantwort­licher wissentlic­h und willentlic­h den Tod von Zehntausen­den Kindern und Zivilisten in Kauf nimmt? Was geht in einem Menschen vor, dem all die zerstörten Leben gleichgült­ig sind? Nicht 1919, nicht 1939, 2019! Was denkt sich jemand wie US-Präsident Donald Trump, wenn er durch seinen Rückzugsbe­fehl einst verbündete Kurden buchstäbli­ch zum Abschuss freigegebe­n hat? Geopolitik hin oder her. Fragen ohne Antwort.

Es ist gar nicht notwendig, auf Syrien, die USA, Russland oder China zu blicken, um solche Fragen und Bilder nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen. Es genügt ein Blick auf griechisch­e Inseln. Erst dieser Tage kam die Meldung, dass in Griechenla­nd Tausende Kinder und minderjähr­ige Jugendlich­e in bis zu fünffach überbelegt­en Lagern buchstäbli­ch verkommen – in der Kälte, im Dreck, unbegleite­t und traumatisi­ert. In Europa scheint ein Appell nach dem anderen, sie dort herauszuho­len und in Sicherheit zu bringen, ungehört zu verhallen. Was denkt sich ein Verantwort­licher, wenn er die Bilder der verstörten Kinder sieht? Wie geht es ihm im Wissen, er könnte Hilfe organisier­en und tut es nicht?

Oder Bosnien. Als Mitte Oktober die Meldung durch die Medien ging, der Bürgermeis­ter von Bihac,´ Suhretˇ Fazlic,´ werde in wenigen Tagen die Nahrungsun­d Wasservers­orgung für das Flüchtling­scamp Vucjakˇ einstellen, schien das viele in Europa kalt zu lassen. Ein Aufschrei in der EU war nicht zu hören. Anfang Dezember berichtete dann Radio FM4 von der „Schande Europas“. Was also geht in Politikern vor, wenn 2019 mitten im Kontinent Menschen verhungern? Auch wenn die meisten der dort Interniert­en aus Afghanista­n, Pakistan oder Bangladesc­h keine Chance auf reguläres Asyl haben und kein Hehl daraus machen, bei der nächsten Gelegenhei­t in einem westlichen EU-Land untertauch­en zu wollen, kann doch 2019 Elend und Sterben nicht so kaltschnäu­zig in Kauf genommen werden.

Wozu die ganzen raffiniert­en Wohlstands­mechanisme­n und -möglichkei­ten, wenn sich nicht einmal die Rückkehr einiger tausend Menschen in ihre ursprüngli­che Länder organisier­en lässt?

Im Gegensatz zu vergangene­n Zeiten wird in Zukunft niemand behaupten können: Wir haben es nicht gewusst, nicht gesehen, nicht erfahren! Die moderne Kommunikat­ion liefert die Bilder der Jugendlich­en ohne Schuhe, frierend im Schlamm watend, in Echtzeit.

Es kann sein, dass das Jahr 2019 als jenes Jahr in Erinnerung bleiben wird, in dem all die internatio­nalen Institutio­nen – einst geschaffen, um solche humanitäre­n Katastroph­en zu verhindern – den Offenbarun­gseid geleistet haben – wegen mangelndem politische­n Willen.

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VON ANNELIESE ROHRER

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