Wo jeden Tag Silvester ist
Frankreich. Auch wenn man bei Reims zuerst an die gotische Kathedrale und Champagner denkt: Art-d´eco-Häuser und eine „Kaserne“machen die Stadt in der Champagne zur Spontandestination.
Einen Superlativ braucht heutzutage jede Unterkunft. Im Fall der Caserne Chanzy ist es das „most immersive hotel“von Reims. So steht es in den Unterlagen der Marriott-Gruppe, die acht Jahre am Umbau des Hauses mit dem martialischen Namen gefeilt hat. Und man taucht wahrhaftig ein in die Champagner-Hauptstadt; wäre nicht die Sicherheitsabsperrung bei der Zufahrt zur weltberühmten Krönungskathedrale, könnte man direkt daneben seine Koffer entladen. Das gotische Weltkulturerbe mit seinen 2600 Skulpturen ist ein Symbolort Frankreichs. 33 Könige wurden in Reims seit dem Jahr 816 gekrönt.
Ludwig der Fromme nahm damals in der Weihnachtsnacht die alte Tradition auf, die der Merowinger Chlodwig um das Jahr 500 begründet hat. Noch heute stellt König Clovis, wie ihn die Franzosen nennen, eine der zentralen Figuren am Portal dar. Der eigentliche PR-Schachzug des heiligen Remigius ist unübersehbar daneben zu erkennen. Die Heilige Ampulle mit dem Salböl soll dem damaligen Bischof von einer Taube gereicht worden sein – sie begründete den Ruhm des Krönungsorts Reims schon lang bevor die Kathedrale Notre Dame überhaupt in Angriff genommen wurde.
Diese Tradition riss mit Karl X. 1825 ab, die beiden Nachfolger beließen es bei der Proklamation des König- beziehungsweise Kaisertums. Reims hätte in der zentralistischen Republik das Schicksal vieler Provinzstädte geteilt. Doch der Champagner sorgt bis heute dafür, dass weltweit der Name der Stadt auf dem Etikett von einem erklecklichen Teil der 302 Millionen exportierten Flaschen steht. Denn auch wenn in E´pernay die Offiziellen wie die Vertretung der 15.000 Traubenbauern der Champagne sitzen: Das gut sechsmal so große Reims kann mit magischen Namen aufwarten. Veuve Clicquot sitzt hier, aber auch das Gegenmodell Taittinger, unter der jungen Vitalie Taittinger eines der letzten familiengeführten Häuser, ebenso wie Pommerys Märchenschloss oder Ruinart, die älteste Maison de Champagne überhaupt. 250 Kilometer lang sind die Keller in den legendären Kreidefelsen der Stadt.
La Georgette, das Restaurant der Caserne Chanzy, huldigt allen. Man könnte die beeindruckende Schampus-Sammlung auch das „Spritzenhaus der Spitzenhäuser“nennen. Denn vor der Aufnahme in die Autograph-Hotel-Kollektion, die ungewöhnliche Locations versammelt, war hier ein alte Feuerwehr-„Kaserne“. Mit witzigen Details erinnert man daran. Wie ein vergessener Hut etwa liegt ein alter Metallhelm an der Theke. Vor der Lobby erinnern Ringe und Pferd an die Art der Ertüchtigung, bevor es Fitnesscenter gab. Der heimliche Star aber ist sie: La Georgette; sie gibt nicht nur dem Lokal den Namen, sondern auch einem Champagner-Cocktail. Das alte Löschfahrzeug – im Original im Automobilmuseum von Reims zu sehen – ziert zudem die Taschen, die man für den Bummel durch die Champagner-Stadt reicht.
Der Schaumwein ist in der Tat schwer zu übersehen beim Bummeln. Das örtliche Kulturzentrum Le cellier zeigt bereits auf seinen Mosaiken, was unter den Herstellungsschritten Remuage, Degorgement und Dosage zu verstehen ist. Kein Wunder, hier befanden sich einst die Keller von Champagne Jacquart. Selbst im Treppenhaus des lokalen Warenhauses der Galeries Lafayette ranken sich Weinreben aus Metall empor. Das 1922 erbaute Kaufhaus verweist mit diesem Detail auf eine zweite Spezialität der Stadt. Reims gilt als Hochburg des französischen Art deco.´ Zwei Straßen weiter steht einer der Prachtbauten aus jener Stil-Ära: Die ehemalige Buchhandlung Michaud in der Rue du Cadran SaintPierre trägt das Baujahr 1925.
Denn die meisten Gebäude erhielten nach dem Ersten Weltkrieg zumindest Teile im neuen Baustil. In der komplett zerstörten Stadt – Reims war die größte Ansiedlung in der Hauptkampflinie der Westfront – gab es 1922 und 1923 mehr Baubewilligungen als in Paris. Das Resultat dieses Wiederaufbauprogramms von 6500 Gebäuden erfreut heute die Touristen an der Marne. Aushängeschild ist die Biblioth`eque Carnegie´ unweit der Kathedrale, die von außen fast zu einem Stilvergleich mit der Wiener Secession im älteren (und figurativeren) Jugendstil herausfordert.
Das Interieur mit Onyx und Marmor hingegen stellt ein pures Artdeco-´Ensemble dar. Verewigt hat man an der Seitenfassade auch den berühmtesten Reimser, JeanBaptiste Colbert. Der allmächtige Minister und spätere Marquis de Seignelay wurde vor 400 Jahren hier geboren, der Bildhauer E´douard Sediey verewigte den großen Sohn. Die Bas-Reliefs Sedieys finden sich in vielen Teilen der Stadt, etwa auch am Hotelˆ de la mutualite´ in der Prachtstraße Cours JeanBaptiste Langlet. Hier hat auch Fossier seine schönste Filiale, das Maison du Biscuit Rose. 1775 servierte man die kleinen Biskotten in zartem Rosa für die Krönung Ludwigs XVI. in Reims – seither gehören sie hier zu den gastronomischen Aushängeschildern.
Das Rezept selbst soll sogar noch älter sein, die Restwärme der Brotöfen wurde ursprünglich zum Backen verwendet, Ressourcenschonung avant la lettre. Auch die rosa Farbe – früher mit dem Schildlaus-Farbstoff Cochenille erzeugt – hat eine nette Legende: Sie sollte die kleinen schwarzen Punkte auf dem Gebäck verdecken, die von der verwendeten Vanille stammten. Klassischerweise tunkt man die Biskotten in den lokalen Rotwein Bouzy – oder Champagner.
Fossier hat heute das Monopol auf das traditionelle Gebäck, neben den Touristenläden mehren sechs Filialen in der Region den Ruf des Hauses. In jener im Vorort