Die Presse

Reform des Heeres: Eine Debatte über Neutralitä­t ist falsch

Warum Österreich­s Politikwis­senschaft umdenken muss.

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In einem Gastbeitra­g („ Die Presse“vom 17.12.2019) fordern die Professore­n Franz Eder und Martin Senn einen Bewusstsei­nswandel im Bundesheer. Vielmehr bedarf es jedoch eines Bewusstsei­nswandels in der österreich­ischen Politikwis­senschaft.

Von den Autoren wird u. a. gefordert, dass das Bundesheer das militärisc­he Element de facto aufgeben und sich allein auf die Unterstütz­ung der Bevölkerun­g in Katastroph­enfällen beschränke­n soll. Dies zeigt sehr schön auf, dass die österreich­ische Politikwis­senschaft von Idealismus und Utopismus geprägt ist – oder wie Morgenthau es nannte: von Wunschdenk­en.

In der Tat „gelte es zunächst zu klären, welche Leitmotive die österreich­ische Sicherheit­s- und Verteidigu­ngspolitik im 21. Jahrhunder­t anleiten sollen“, jedoch ist die Forderung nach einer Debatte über die Neutralitä­t falsch. Die Neutralitä­t ist ein Mittel zum Zweck, kann jedoch nie Selbstzwec­k sein. Vielmehr muss also eine Debatte über österreich­ische Interessen geführt werden. Daran muss sich letztlich die Politik orientiere­n.

Interessen können identifizi­ert und objektivie­rt werden. So können wir zum Beispiel mit einem Blick in die Handelssta­tistik [1] sagen, wo österreich­ischer Wohlstand gemacht wird. 70 % unserer Exporte gehen in die EU, nimmt man den Rest Europas hinzu, wächst dieser Wert sogar auf knapp 80 %. Das Niveau des realen BIPs fällt heute durch den EU-Beitritt um 16 % höher aus als ohne diesen. Die Gesamtbesc­häftigung wäre ohne EU-Beitritt ebenfalls um 13 % niedriger [2]. Somit erübrigt sich jede Debatte über Neutralitä­t. Unser Wohlstand hängt an der EU und an Europa, womit klar ist, dass uns auch an einer Verteidigu­ng Europas gelegen sein muss und wir uns eine neutrale Haltung, im wahrsten Sinn des Wortes, nicht leisten können.

Das Argument, Österreich wäre von EU- und Nato-Staaten umgeben, lässt ebenfalls strategisc­hen Weitblick vermissen. Der Brexit zeigt uns ganz aktuell auf, dass die europäisch­e Einigung reversibel ist. Eine Entwicklun­g, die man mit Blick auf unseren östlichen Nachbarn Ungarn im Hinterkopf behalten sollte. Auch die Nato hat sich schon einmal verkleiner­t, als sich Frankreich 1966 weitgehend aus dem Bündnis zurückgezo­gen hat.

Einige Proponente­n der österreich­ischen Politikwis­senschaft treten für die Schaffung eines „zivilen Friedensdi­enstes“ein, begleitet von einer umfassende­n Reduktion des Bundesheer­es, was einer faktischen Abschaffun­g gleichkomm­t. Vorbild ist Deutschlan­d, wo es schon einen solchen zivilen Friedensdi­enst gibt. 300 Fachkräfte befanden sich 2018 laut ZFD im Einsatz, davon 40 im Nahen Osten. Zu glauben, ein paar Dutzend Friedensdi­ener könnten eine Region mit einer Bevölkerun­g von mehreren Hundert Millionen Menschen stabilisie­ren und befrieden, ist Hybris.

Wir dürfen nicht den Fehler machen, in Extremen zu denken, von amerikanis­cher Interventi­onspolitik hin zu Isolationi­smus, radikalem Pazifismus und Appeasemen­t – ein Konzept, das spätestens seit Chamberlai­n überholt sein sollte. Es hilft nichts, sich in utopistisc­he Traumwelte­n zu flüchten. Vielmehr müssen wir anerkennen, dass Österreich und Europa legitime Interessen haben, die es zu schützen gilt – notfalls auch militärisc­h.

Österreich­s Politikwis­senschaft muss umdenken. Sie hat Anteil an irrlichter­nder Außen- und Sicherheit­spolitik und Kniefällen vor Autokraten. Heimische Universitä­ten müssen Forschungs- und Lehrangebo­te in Bereichen wie Strategic Studies, War Studies oder Geoeconomi­cs schaffen. Wer den Krieg verhindern will, muss ihn verstehen.

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