Hitler und ein Kaninchen
Kino. Judith Kerrs Klassiker „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“wurde erstaunlich leichtfüßig neu verfilmt.
Film: Judith Kerrs Klassiker „Als Hitler das rosa Kaninchen“stahl.
Noch glauben die Geschwister, die Zugreise in die Schweiz sei nur ein Ausflug. Seltsam zwar, mitten in der Schulzeit, wie auch der deutsche Grenzbeamte kritisch bemerkt. Aber wie ein Abschied für immer fühlt sich der Aufbruch mit nur einem Koffer aus Berlin eben auch nicht an. Vor allem nicht für Anna, die jüngere der beiden Geschwister Kemper.
Im Zug studiert sie ein Buch von Bruder Max über berühmte Persönlichkeiten und liest vor: „Die meisten berühmten Menschen hatten eine schwierige Kindheit.“Aus Max und ihr könne daher nichts werden, viel zu unbeschwert und leicht sei ihre Kindheit. Der ältere Bruder, ohnehin immer ein paar Schritte weiter, hat aber eine Vorahnung: „Warten wir mal ab, Anna.“
In einem Schweizer Bergdorf findet sich die Familie kurz darauf wieder. Hier wohnt sie in einer kleinen Frühstückspension, gewöhnt sich langsam an geschmolzenen Käse und die seltsame Sprache der Dorfkinder.
Ende Februar 1933, wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung und nur wenige Tage vor den Reichstagswahlen am 5. März, verlässt die Familie so plötzlich Berlin, dass die Kinder sich entscheiden müssen, welches Spielzeug mitkommt. Anna weiß nicht, ob sie das schon sehr abgegriffene rosa Kaninchen einpacken soll oder doch lieber den neuen Plüschterrier. Der Vater, als Journalist lautstarker Kritiker von Hitler, wird anonym gewarnt, dass die Nazis nach den Wahlen alle Kritiker verhaften wollen. Ein ärgerlicher Regiefehler irritiert hier gleich zu Beginn der neuen Verfilmung des Jugendbuch-Klassikers „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“: Im Schweizer Bergdorf kommt die Familie im März an, und doch sind die Blätter da schon grün, die Blumen blühen! So schnell kommt der Sommer in kein alpines Bergdorf.
Die deutsch-britische Autorin Judith Kerr veröffentlichte die Erzählung vom rosa Kaninchen 1971 („When Hitler Stole Pink Rabbit“) und verarbeitete darin ihre eigene Fluchtgeschichte. Ihr Vater war der jüdische Feuilletonist und Hitler-Kritiker Alfred Kerr. Die Familie lebte bis zum Winter 1933 in großbürgerlicher Sicherheit in Berlin und floh dann über die Schweiz und Frankreich nach London, wo Judith Kerr eine neue Heimat fand und erst im Mai 2019 starb.
Naive, neugierige, furchtlose Anna
Ihre Protagonistin Anna Kemper lassen Regisseurin Charlotte Link und Drehbuchautorin Anna Brüggemann ziemlich genau so erscheinen, wie sie einem beim Lesen des Buches erschien: ein bisschen naiv zwar, aber vor allem neugierig, furchtlos und keinesfalls weinerlich. Mit ihrem Bruder übersteht sie auch die unangenehmen Seiten des Flüchtlingsdaseins. Die Geldsorgen der Eltern, die ungewöhnlichen Speisen – und zwar immer wieder seltsamer Käse: Raclette in der Schweiz, Brie in Frankreich –, die Suche nach neuen Freunden und der Abschied von Menschen und Orten, die einem lieb geworden sind. In Berlin geht sie kurz vor der Abreise noch einmal durch alle Zimmer und sagt: „Auf Wiedersehen, dicker Flügel, runder Tisch, altes Haus.“Im Schweizer Bergdorf sagt sie: „Uf Wiederluege, enge kleine Gasse“– und in Paris nimmt sie mit einem seufzenden „Au revoir“Abschied. Da hat sie auch schon ein bisschen Gefallen an diesem Leben gefunden, denn immerhin kann sie jetzt behaupten, „eine schwierige Kindheit“zu haben.
Das rosa Kaninchen, das Anna in Berlin zurücklässt, sieht sie tatsächlich nie wieder. Die liebevolle Haushälterin Hempi hatte ihr zwar versprochen, das Kaninchen in einer großen Kiste nachzuschicken. Doch in der Zwischenzeit haben die Nazis die Sachen der Familie Kemper konfisziert, die Villa arisiert, in Annas Worten hat also Hitler das rosa Kaninchen gestohlen.
Kerrs Roman ist die Geschichte einer Flucht vor den Nazis, die noch einmal gut ausgeht. Das positive Pendant zum Tagebuch der Anne Frank. An die Amsterdamer Familie und ihr Versteck in der Prinsengracht muss man gerade auch bei diesem Film denken, wenn die Geldsorgen in der Pariser Mansardenwohnung zu kleinen Zankereien innerhalb der vierköpfigen Familie Kemper führen.
Dabei vermittelt Judith Kerr in ihrer Geschichte auch, wie wichtig Familie gerade bei einer Flucht ist. Anna sagt: „Wenn man kein Zuhause hat, muss man zusammen bleiben, sonst verliert man sich.“Auf der Fähre von Frankreich nach England sprechen die Kempers über das, was sie in London erwartet. Welchen Käse gibt es diesmal?
Kein Wort verstehen Anna und Max von dem, was die britischen Kinder auf der Fähre sagen. Doch die zuversichtliche Anna sagt: „Das macht ja nichts, bald versteh ich wieder alles.“Eine schwierige Familiengeschichte, die schon leichtfüßig niedergeschrieben wurde, wurde hier noch eine Spur luftig-leichter verfilmt.