Die 17-Jährige, die nicht feiern will
Wir rechnen ab. Wer und was uns 2019 begeistert, überrascht, enttäuscht hat – etwa ein umstrittener Filmbösewicht, ein noch umstrittenerer Nobelpreisträger, eine mutige Choreografin und eine 17-Jährige, der nicht zum Feiern zumute ist.
Billie Eilish, Peter Handke und Co.: Das „Presse“Feuilleton rechnet mit 2019 ab.
Theater
GOLD: „Vögel“. Wajdi Mouawads Drama, fulminant inszeniert von Itay Tiran, war eine Sternstunde im Akademietheater (auf dem Foto Markus Scheumann, Deleila Piasko).
SILBER: „Am Königsweg“. Jelineks Stück begeisterte im Landestheater Niederösterreich unter der Regie von Puppenmeister Nikolaus Habjan sogar die „New York Times“.
BRONZE: „Kirschgarten“. In Anton Tschechows Komödie brillierten höchst konzentriert Regisseur Arturas Valudskis und das Ensemble des Theaters an der Gumpendorferstraße.
SCHROTT: „Dies Irae“. So viel Aufwand für die vom künftigen Volkstheater-Direktor Kay Voges inszenierte „Endzeit-Oper“im Burgtheater – und so viel modische Fadesse.
URGESTEIN: Herbert Föttinger. Seit der Saison 2006/07 ist er Direktor des Theaters in der Josefstadt. Und macht es immer besser. [ APA ]
Klassik
GOLD: Beethoven-Zyklus. Rechtzeitig zum Jubiläumsjahr vollendete Wiens künftiger Staatsopern-„General“, Philippe Jordan, mit den Symphonikern „alle Neune“, virtuos!
SILBER: Igor Levit. Bei Salzburgs Festspielen statuierte der grandiose Pianist mit Busonis „Fantasia contrappuntistica“ein Exempel.
BRONZE: Julius Bittner. Die Entdeckung 2019: die Erste Symphonie des halb vergessenen Opernmeisters – für Toccata aufgenommen durch ein sibirisches Orchester. . .
SCHROTT: Flötenuhr. Der traditionsreiche Wiener Preis kann nicht mehr vergeben werden. Die Stadt Wien gibt kein Geld mehr für herausragende Mozart-Interpretationen.
URGESTEIN: Rene´ Clemencic, Doyen der heimischen Interpreten und Komponisten, leitete seinen letzten Musikvereins-Abend. [ APA ]
Literatur
GOLD: „Herkunft“. Zutiefst persönlich, überraschend, ergreifend: Der in Visegradˇ geborene Sasaˇ Stanisiˇc´ erhielt für seinen Roman den Deutschen Buchpreis. SILBER: „Die Nacht war bleich, die Lichter blink
ten“: Emma Braslavsky erzählte von einer Beziehungswelt mit künstlichen Partnern.
BRONZE: „Als ich jung war“. Kühle Meisterschaft wurde mit dem Österreichischen Buchpreis belohnt: Norbert Gstrein erzählt von einem Mann und (sexueller) Schuld.
SCHROTT: „Quichotte“. Salman Rushdie ist schon lang nicht mehr, was er (in den „Mitternachtskindern“) einmal war.
URGESTEIN: Peter Handke. Seit 53 Jahren ist er berühmt, doch noch nie hat die Welt so viel über ihn geredet wie heuer, da er Literaturnobelpreisträger wurde. [ APA ]
Oper
GOLD: „Die Frau ohne Schatten“. Eine Traumproduktion der Staatsoper unter Christian Thielemann mit Nina Stemme (Bild), szenisch dezent, musikalisch sowohl bei der Premiere als auch bei der teils neu besetzten herbstlichen Reprise phänomenal.
SILBER: „Sommernachtstraum“. Brittens Shakespeare-Oper, poetisch inszeniert, von Simone Young mit dem exzellenten Staatsopern-Ensemble einstudiert.
BRONZE: „Brigadoon“. Getreulich erzählt, in minimaler Ausstattung: Der Volksoper gelang eine überzeugende Erinnerung an eines der zauberhaftesten klassischen Musicals.
SCHROTT: Osterfestspiel-Skandal. Der Ersatz Christian Thielemanns durch Nikolaus Bachler durch Salzburgs Landeshauptmann.
URGESTEIN: Gundula Janowitz. Erhielt für ihr Lebenswerk die Hugo-Wolf-Medaille. [ Staatsoper ]
Pop
GOLD: Billie Eilish. Das Leben ist keine Party: Diese 17-jährige blasse Kalifornierin hat den tragischen Teenage-Pop neu erfunden.
SILBER: Stormzy. Wild, wütend, poetisch: Dieser Mann aus der Londoner Vorstadt brachte die Rhythmen des Grime in die Charts. Und sein Bild in die National Gallery. Zu Recht.
BRONZE: Cigarettes After Sex. Das letzte Aufgebot der männlichen Begierde: Der Sänger dieser US-Band nahm sich kein Feigenblatt vor den Mund. Sanft, aber explizit.
SCHROTT: Stadionkonzerte. Pink und Hot Dogs. Bon Jovi und Bier. Gabalier und Zuckerwatte. Mitsingen. Alle! Alle!! Alle!!! Alle?
URGESTEIN: Andre´ Heller. Mit dem Geist von Otis Redding durch Wien, Marrakesch und das eigene Poeten-und-Gaukler-Ich: „Spätes Leuchten“, ein starkes Comeback. [ Reuters ]
Film
GOLD: „Joker“. Kein Film spaltete uns heuer wie Todd Phillips’ düsteres Antiheldendrama – das zum Massenphänomen wurde.
SILBER: „Ich war zu Hause, aber . . .“. Das Porträt einer überforderten Mutter bescherte der deutschen Empfindungsfilmerin Angela Schanelec den überfälligen Durchbruch.
BRONZE: A24. Mit genialem Marketing und einer Handvoll Hits schuf sich die New Yorker Produktionsfirma ein Image als letzte Kunstbastion in Hollywood.
SCHROTT: „Iron Sky. The Coming Race“. Der erste Teil war ein Überraschungserfolg. Der zweite wäre besser hinter dem Mond geblieben.
URGESTEIN: „Irishman“. Scorseses berückender Abgesang auf das Gangsterkino. Doch für größere Aufregung sorgte die Kritik des 77-Jährigen an Marvel-Blockbustern. [ Warner ]
Kunst
GOLD: „Stadt der Frauen“, Unteres Belvedere. Steht für endlich geschlossene Lücken der Kunstgeschichte. Dazu zählte heuer auch: „Art Brut Künstlerinnen“, BA Kunstforum.
SILBER: Richard Gerstl, seit Jahrzehnten wieder in Wien mit einer Retrospektive geehrt. Im Leopold Museum, das auch sonst ein gutes Jahr hatte (Wien-um-1900-Neuaufstellung!).
BRONZE: „Die Ephrussis“im Jüdischen Museum Wien, das ist großes Kino. Die Ausstellung um Geschichte und Heimkehr der Familie des „Hasen mit den Bernsteinaugen“.
SCHROTT: Sabine Haags Spießrutenlauf als neue alte KHM-Generalin. Demütigung, Eike Schmidt, Absage und wieder Neuausschreibung – hätte man sich echt sparen können.
URGESTEIN: „Leonardo“(Louvre), Dürer (Albertina) oder Caravaggio/Bernini (KHM) – die Alten Meister hatten ein starkes Jahr. [ Belvedere ]
Jazz
GOLD: Nat Birchall Quartet. Dem britischen Saxofonisten ist mit seinem beseelten Tribut an Ikone Yusef Lateef das Album des Jahres geglückt. Intensiver kann Jazz nicht klingen.
SILBER: Guido Spannocchi. Der aus Wien gebürtige Altsaxofonist hat sich spätestens mit seinem wunderbar reschen Album „All The Above“in London durchgesetzt.
BRONZE: Jazzmeia Horn. Klare Intonation und politische Statements: Die Sängerin legte mit „Love And Liberation“ein Meisterwerk vor.
SCHROTT: „Harmony“. Gitarrist Bill Frisell hat sich einen erstaunlich faden Fehlgriff Richtung Easy Listening geleistet.
URGESTEIN: Miles Davis. Der 1991 gestorbene Trompeter konnte auch 2019 entzücken. Das mutig nachproduzierte „Rubberband“wurde zur Jazz/R&B-Delikatesse. [ Jazzman]
Serie
GOLD: „Fleabag“. Derb, präzise, komisch – mit einem herzzerreißenden Schluss – was für eine 2. Staffel! Phoebe Waller-Bridge (Autorin, Hauptdarstellerin) ist unsere Heldin.
SILBER: „Chernobyl“. Erinnerung an den Super-GAU von 1986. Gestorben wird wie im Horrorfilm, doch selbst in dieser nuklearen Hölle ist Platz für Mut und Menschlichkeit.
BRONZE: „Sex Education“. Ein gehemmter Bub, der anderen Schülern psychologische Tipps für ihr Sexleben gibt: Eine anrührend komische Teenie-Serie, eher für Erwachsene.
SCHROTT: „Game of Thrones“. Hunderttausende enttäuschte Fans forderten von den Machern eine Neuauflage der finalen Staffel.
URGESTEIN: „The Crown“. In Staffel 3 von Peter Morgans Glanzstück gibt Olivia Coleman die Queen zum Fürchten authentisch. [ Two Brothers ]
Architektur
GOLD: James-Simon-Galerie. Der britische Architekt David Chipperfield hat Berlin ein würdiges Entree´ für seine Museumsinsel verschafft. Vor allem im Inneren gelungen.
SILBER: The Shed. Das Kulturzentrum ist der teuerste Schuppen der Welt (500 Mio. Dollar). Aber auch der schönste: Die bewegliche Riesenmembran von Diller Scofidio + Renfro ist ein neues Highlight New Yorks.
BRONZE: Quartier Belvedere. Mit den „Stelzenbauten“hat Wien sein erstes Projekt von Renzo Piano. Nicht sein Meisterwerk, aber wir sind trotzdem stolz darauf.
SCHROTT: Ugly Tour Wien. Eine plausible Schandfleck-Auswahl. Unser Favorit: Das ungarische Kulturinstitut (Hollandstraße).
URGESTEIN: Arata Isozaki. Der Pritzker-Preis für den Japaner gilt auch seinem Fleiß. Museen, Stadien, Hochhäuser: Er baute alles. [ Reuters ]
Tanz
GOLD: Doris Uhlich. Innovativ, unerschrocken, weltoffen: Eine Choreografin, die mit (oft nacktem) Körpereinsatz zum Grübeln anregt und deren Lebensfreude anstecken kann.
SILBER: Manuel Legris. Der scheidende Ballettchef der Staatsoper hinterlässt den Wiener Ballettfans eine Compagnie auf Weltniveau.
BRONZE: Mette Ingvartsen. In „Red Pieces“reflektiert sie klug über Sex, Porno und Macht. Facebook ist weniger schlau und sperrte wegen des Trailers die ImPulsTanz-Seite. Huch!
SCHROTT: Ballettakademie. Der gute Ruf der Ballettakademie ist seit dem Skandal perdu. Die Sonderkommission ortet „Gefährdung des Kindeswohls“. Ein Neustart muss her!
URGESTEIN: Karl Regensburger, Ismael Ivo. Sie erfanden 1984 das ImPuls-Festival, machen Wien im Sommer zur Tanzstadt. [ C. Frank ]
TV
GOLD: Tobias Pötzelsberger. Ibiza-Video und Regierungs-Aus brachten uns ein frisches „ZiB“-Gesicht. Er meisterte den Stegreif-Moderations-Marathon im Mai souverän.
SILBER: „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“. David Schalko verfilmte den Fritz-Lang-Klassiker der 1930er neu – als politische Krimiserie und Psychogramm einer Großstadt.
BRONZE: Jan Böhmermann. Der Comedian kandidierte 2019 scherzhaft, aber pointiert für die SPD und sagte ade zu ZDFneo. 2020 darf er im ZDF-Hauptabend Fernsehen machen.
SCHROTT: „Q1 – Ein Hinweis ist falsch!“. Statisch, kahl, fad. Dieses Quiz wird den ORF-1-Vorabend nicht retten. Dann bitte lieber Soaps!
URGESTEIN: Elizabeth T. Spira. Sie war mutig und goschert, aber auch feinfühlig. Im März starb die Geschichtensammlerin. Adieu! [ ORF ]