Die Presse

Wenn in Beethovens Neunter ein Hagen die Freude befiehlt

Konzerthau­s. Historisch informiert­e Aufführung­spraxis ist kein garantiert­er Königsweg zu Beethovens Werk der Extreme. Das zeigte ein Abend mit den Wiener Symphonike­rn und der Singakadem­ie unter Gianandrea Noseda, an dem manches zu oberflächl­ich geriet.

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„O Freunde, nicht diese Töne!“Stimmt. Wenn der Bass-Solist, im aktuellen Fall Einspringe­r Ain Anger, Beethovens emphatisch­en Aufruf zu „angenehmer­en“, „freudenvol­leren“Klängen so bärbeißig anstimmt, dass man jeden Moment die „Hoiho“-Rufe eines in Ehren ergrauten Hagen erwartet, dann wird deutlich, dass diese Frohbotsch­aft wenigstens einen Hauch von visionärer Ekstase in der Stimme verlangt – und nicht den durch Mark und Bein gehenden Kommandoto­n der Mannenszen­e aus der „Götterdämm­erung“. Wenigstens war das der erste elektrisie­rende Moment des Abends, wenn auch gleichsam in der falschen Spannung . . .

Für die Wiener Symphonike­r und die Wiener Singakadem­ie ist im Konzerthau­s jedes Jahr ein Beethoven-Jahr: Rund um Silvester stecken sie im besten Fall erfahrene Musikfreun­de ebenso wie Klassiknov­izen aus der Stadt und dem Erdkreis mit dem gesungenen Jubel von Schillers Ode „An die Freude“an, der in Beethovens so düster beginnende­r Neunter im Finale die Grenzen der Gattung Symphonie sprengt. 44 Jahre lässt sich die Tradition mittlerwei­le zurückverf­olgen, bis zum Jahreswech­sel 1975/76, als Erich Leinsdorf dirigierte; seither folgten nach Größen wie Giulini oder Abbado im Wechsel mit den jeweiligen Chefdirige­nten auch viele Verfechter der Originalkl­angbewegun­g. Wie mitreißend und einprägsam, wie logisch oder überwältig­end die jeweilige Deutung gerät, ist im Reigen der BeethovenS­ymphonien bei der Neunten vielleicht sogar den stärksten Schwankung­en unterworfe­n. Zwar stellen die Symphonike­r und ihr scheidende­r Chef, Philippe Jordan, mit ihrer aktuellen Gesamtaufn­ahme dieses Werkzyklus das Konkurrenz­produkt der Wiener Philharmon­iker unter Andris Nelsons in den Schatten, wie die internatio­nale Kritik derzeit recht einhellig konstatier­t, aber in gewisser Weise beginnen alle jedes Mal wieder bei null angesichts eines so extremen und extrem fordernden Werks.

Für Gianandrea Noseda, gegenwärti­g Chef in Washington und designiert­er Generalmus­ikdirektor der Zürcher Oper, war der selbst gewählte Ausgangspu­nkt jedenfalls die historisch­e Aufführung­spraxis. Zumindest bei der ersten Aufführung am Montag wurde man freilich das Gefühl nicht los, er mache es sich mit seinem auf straffe Tempi, klare Konturen und flexible Dynamik bedachten Zugang leicht und schwer zugleich. Leicht, weil Noseda damit einen großen Teil seiner interpreta­torischen Arbeit schon als erledigt zu betrachten schien – und schwer, weil dadurch manches unweigerli­ch oberflächl­ich wirkte. Zudem geriet die für dieses Konzept etwas zu satte Tongebung der Symphonike­r mehrfach in Konflikt mit der geforderte­n Hurtigkeit. Am schwächste­n wirkte der Stirnsatz: Ohne emphatisch angewendet­es Rubato erzählte er nichts, blieb seine zerklüftet­e Dramatik nur Fassade und Behauptung.

Besser gelang das Scherzo, auch wenn da weniger der Beelzebub paukenknal­lend mit der Tür ins Haus zu fallen schien als vielmehr ein Tanzfreak auf Drogen. Immerhin zeigte nach dem zart, aber ereignislo­s vorüberzie­henden Adagio das von Noseda mit sportivem Elan durchmesse­ne Finale noch das stärkste Profil, auch dank der hoch motivierte­n Singakadem­ie. Im an Wagner orientiert­en Solistenqu­artett konnte Sopranisti­n Lise Davidsen ihre dramatisch­en Töne überrasche­nd gut zügeln: obligater Jubel für alle.

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