Ein Animator am Pult
Neujahrskonzert. Debütant Andris Nelsons präsentierte sich als liebenswürdiger Animator der Philharmoniker. In Lautstärke und Kontrastwirkungen schoss er oft übers Ziel hinaus, punktete aber überraschend bei den kleinen Stücken.
NeujahrskonzertDebütant Andris Nelsons schoss in Lautstärke und Kontrastwirkung oft übers Ziel, punktete aber bei den kleinen Stücken.
Sympathisch wirkt er ja. Andris Nelsons ist noch gar nicht richtig durch die Tür aufs Podium getreten, da gibt er beim „Radetzkymarsch“dem Schlagzeug schon das Zeichen. Was die fundamentale Organisation anbelangt, hat sich der Dirigent dadurch überflüssig gemacht: Das Tempo steht fest, und das Orchester weiß im Schlaf, wann es einzusetzen hat.
Und so verzichtet Nelsons in der Folge fast völlig darauf, die Philharmoniker im eigentlichen Sinn zu leiten, kehrt ihnen meist den Rücken zu und konzentriert sich mit seinen meist weit ausladenden, groß rudernden Gesten und blitzenden Augen lieber aufs Publikum. Tatsächlich schafft er es – wie schon Gustavo Dudamel 2017 –, das obligatorisch herzhafte Mitklatschen an einer Stelle sogar mit Crescendo und Decrescendo zu nuancieren. Wer das miterlebt hat, der ahnt, was namhafte Klangkörper wie das Boston Symphony Orchestra oder das Leipziger Gewandhausorchester, bei denen Nelsons seine aktuellen Chefposten hält, an dem lettischen Dirigenten und Protege´ des unlängst verstorbenen Mariss Jansons so schätzen: den liebenswürdigen Animator, den Kollegen am Pult, der es immer gut meint mit seinen Musikern – und mit der Musik sowieso. Wenn in der Silvesteraufführung des Programms in Hans Christian Lumbyes „Postillon-Galopp“die musikalische Einlage des studierten Trompeters Nelsons zuletzt gicksend misslingt und er darüber schulterzuckend spaßen kann, dann macht ihn das noch sympathischer – zumal am Neujahrstag dann seine Fanfarenstöße gelingen.
Auftakt des Beethoven-Jahrs
Gut und schön möge also auch gespielt werden, versteht sich. Aber was das genau bedeutet und wie das im Detail klingen soll, das wird keineswegs lückenlos deutlich bei Nelsons’ Interpretationen – weder im herkömmlichen Konzertrepertoire noch bei diesem Neujahrskonzert-Debüt zum Auftakt des Beethoven-Jahrs 2020 mit neun Novitäten im Programm. Überflüssig, darüber zu spekulieren, ob die Entscheidung der Philharmoniker, Nelsons ans Pult dieses Hochfests wienerisch-klassischer Unterhaltungskultur zu laden, nun eine logische Folge der in zehn Jahren eng gewordenen Verbindung zwischen Orchester und dem 41-Jährigen ist oder ob dabei doch zumindest auch marktstrategische Erwägungen eingeflossen sind: Immerhin haben sie zusammen gerade die Beethoven-Symphonien aufgenommen, und diese wollen in Zeiten sinkender Verkaufszahlen und ständig wachsender Konkurrenz auch beworben werden . . .
Gewiss ist: Nelsons, bei dem man oft den Eindruck hatte, er hechle seiner rasanten Karriere hinterher, hat dazugelernt. Vor ein paar Jahren noch wollte er einmal im solistisch besetzten Trio einer Haydn-Symphonie, auch das ein Dreivierteltakt, partout jede agogische Nuance bestimmen, anstatt einfach Kammermusik zuzulassen. Diese Zeiten scheinen gottlob vorbei. Im Walzer „Wo die Citronen blüh’n“etwa, für dessen Einleitung Johann Strauß Sohn übrigens ein pastorales Stimmungsbild ersonnen hat, das Italien betörend nah an Wagners Nürnberger Fliederduft verortet, weiß er sich durchaus im rechten Augenblick zurückzuziehen und den entscheidenden Moment des Walzerauftakts der orchestralen Eigenverantwortung zu überlassen. Aber weder beim Tanzen noch beim Musizieren reicht es für ein herausragendes Resultat schon aus, einander möglichst selten auf die Zehen zu steigen.
Donnernde „Landstreicher“
Gerade in Tutti-Stellen ließ Nelsons das Orchester nämlich ziemlich unbehelligt – und damit dem Überschwang die Zügel schießen. Wenn aber Eleganz und Schimmer unter trampelnde Fortissimo-Hufe geraten, dann vernimmt man statt Franz von Suppes´ brillant-schneidiger „Leichter Kavallerie“eher eine ganze Herde schwerer Schlachtrösser – vermeintlich herausgeputzt durch nicht in der Partitur verlangte Effekte wie die extreme Verbreiterung bei der Wiederkehr des „Retraite“-Signals gegen Ende (eine Tradition, gegen die zum Beispiel einst Herbert von Karajan eingetreten ist) und die nachfolgende, überzogene Beschleunigung des Tempos. Aber schon Carl Michael Ziehrers „Landstreicher“waren eingangs mit pauschalem Donnern angerückt, während die Gesten, mit denen Nelsons den Philharmonikern fallweise ein magisch schwebendes Feiertag-Pianissimo abzuringen versuchte, meist spektakulärer wirkten als ihr klingendes Ergebnis.
In dem Brahms gewidmeten „Seid umschlungen, Millionen!“von Johann Strauß, auch eine Art Kommentar zum BeethovenJahr, fehlten Melancholie und Größe – und die Walzermelodie mit ihrem Gegensatz zwischen sehnsüchtig breitem Melodieaufschwung und rhythmischem Elan kam dann etwas mechanisch leiernd daher. Wie so oft wäre auch bei diesem Kontrast weniger mehr gewesen. Lang blieben also in den großen Ouvertüren und den oft recht breit genommenen Walzern der gestalterischen Fantasie merkliche Grenzen gesetzt, was einen gewissen Ennui zur Folge hatte. Erst „Freuet euch des Lebens“und Josef Strauß’ „Dynamiden“, die Vorlage für Richard Strauss’ „Rosenkavalier“-Walzer, sollten mit langem Melodieatem die gelungensten Beiträge werden.
Fetzige „Tritsch-Tratsch-Polka“
Ohne Frage, Reißer wie Eduard Strauß’ „Knall und Fall“sowie die wirklich fetzig genommene „Tritsch-Tratsch-Polka“zündeten mit Fug und Recht. Seine eigentliche Stärke hatte das Konzert jedoch in den vermeintlich kleinen und vergleichsweise ruhigen Stücken. Petitessen wie „Cupido“, den Josef Strauß melodisch mit Nicolais „lustigen Weibern“kokettieren lässt, eine zauberhafte Gavotte von Josef Hellmesberger jun., bei der man verstehen kann, dass der Komponist kaum von seinem Hauptthema lassen wollte, die adrette „Blumenfest-Polka“oder auch eine Auswahl aus Beethovens leichtherzigen Kontretänzen WoO 14, unter denen sich auch das „Eroica“-Finalthema findet: Mit unprätentiösem Charme und wohldosierten Nuancen präsentiert, erweckten sie alle den Eindruck, diese leichte Musik lasse sich auch mit größter Leichtigkeit treffen. Das Gegenteil ist der Fall. Und dafür war man Andris Nelsons und den Philharmonikern dann doch dankbar.