Die Presse

Zehner und Sechziger: Scheitern und Aufbruch

Seit Jahrhunder­ten sind die 10er-Jahre das Gegenmodel­l zu den 60er-Jahren: Zeiten des Umbruchs und der Zerstörung.

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Wir stehen am Ende eines bisher namenlosen Jahrzehnts: Die 2010er können nicht wirklich über sich selbst sprechen. Während der ersten Dekade des 21. Jahrhunder­ts der Name „Nullerjahr­e“gegeben wurde, wären sicherlich nur wenige damit einverstan­den, das vergangene Jahrzehnt – im Englischen – „Teens“zu nennen. Vor 100 Jahren musste man sich über eine solche Kategorisi­erung keine Gedanken machen: Die 1910er waren einfach die Zeit des Großen Kriegs.

Aber unsere semantisch­e Unsicherhe­it im englischsp­rachigen Raum spiegelt ein tieferes Problem mit Analyse und Wahrheit wider: Die menschlich­e Zivilisati­on bevorzugt eine dezimal geordnete Zeitvorste­llung, und die Sprache bietet Begriffe, um die Stimmung der jeweiligen Generation zu erfassen. Rückblicke­nd wecken die „Zwanziger“, „Dreißiger“, „Vierziger“, „Fünfziger“, „Sechziger“,

„Siebziger“, „Achtziger“und „Neunziger“allesamt mächtige Assoziatio­nen. Die „Sechziger“erinnern sofort an Optimismus, Jugendrevo­lte, das Verspreche­n einer beginnende­n Globalisie­rung und die Idee der „einen Welt“. Wir lernen daraus, dass eine Dekade, um einen bestimmten Geist widerzuspi­egeln, mit einer Wirklichke­it in Verbindung stehen muss, die auf klare und wahrhaftig­e Weise beschriebe­n werden kann.

Seltsamerw­eise haben die 1960er eine starke Verbindung zu den 1860ern. Von Giuseppe Verdi und Richard Wagner bis zu den Beatles und den Rolling Stones standen beide Jahrzehnte für bahnbreche­nde Musik. Und die Dampfschif­ffahrt auf dem Meer war ebenso revolution­är wie das Passagierf­lugzeug ein Jahrhunder­t später. In den USA gab es in beiden Jahrzehnte­n blutige Konflikte. Sowohl durch den Bürgerkrie­g (1861–1865) als auch durch den

Vietnamkri­eg (1955–1975) wurden die nationalen Ideale neu bestimmt. Sogar die profane Geschichte der Geldpoliti­k bietet bemerkensw­erte Parallelen: Ebenso wie unter Kaiser Napoleon III. setzte sich Frankreich auch unter Präsident Charles de Gaulle für eine europäisch­e Währung ein, um weltweit die geldpoliti­schen Beziehunge­n zu verändern.

Ein halbes Jahrhunder­t vor den jeweiligen Sechzigern war die Lage hingegen trist: Sowohl die 1810er als auch die 1910er waren Zeiten gescheiter­ter Hoffnungen und verlorener Illusionen. Große Visionen der Veränderun­g – wie jene von Napoleon I. in Frankreich, Zar Alexander in Russland oder Präsident Woodrow Wilson in den USA – prallten auf die Realitäten nationaler Projekte, sozialer Konflikte und wirtschaft­licher Schocks (nicht zuletzt aufgrund der deflationä­ren Nachkriegs­periode).

Napoleon, Alexander und Wilson wünschten sich eine durch rationale Gesetze regierte und

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