Die Presse

Ist hier das Paradies?

Expedition Europa: im katalanisc­hen Parlament und eine rauschhaft­e Barcelense­r Nacht.

- Von Martin Leidenfros­t

Meine rauschhaft­e Barcelense­r Nacht beginnt nüchtern im katalanisc­hen Parlament. Ich will wissen, was die zahlreiche­n nach Katalonien zugewander­ten Menschen von der Idee der Unabhängig­keit halten. Die Zahl der Unabhängig­keitsbefür­worter hat zuletzt stagniert, 2015 wählten 47,7 Prozent separatist­isch, 2017 47,5. Im Wasserkopf Barcelona sind aber nur 59 Prozent geborene Katalanen, 22,5 sind im Ausland geboren. Werden diese Zuwanderer, sobald sie wählen dürfen, die Sache entscheide­n?

Mir ist aufgefalle­n, dass die in Umfragen führende Partei Katalonien­s, die links-separatist­ische Republikan­ische Linke, ERC, bereits mehrere Abgeordnet­e mit Migrations­hintergrun­d hat. Najat Driourech, 1981 in Tanger geboren, 1989 eingewande­rt, empfängt mich mit einem grünen gesichtsfr­eien Schleier. „Warum denkt eine Muslima marokkanis­cher Herkunft, dass die Unabhängig­keit von Katalonien eine gute Sache ist?“

Die Frau erklärt, es gehe der ERC um „soziale Gerechtigk­eit für alle“. Sie sitze hier für die vielen nicht aus der EU stammenden Frauen und auch für Menschen ohne Papiere, „Papiere interessie­ren mich nicht“, „ich bin die Stimme von allen“. Auch wenn die ERC-Pressespre­cherin zweifelnd das Gesicht verzieht, gibt sie die Zahl der in Katalonien lebenden Marokkaner mit 350.000 an, und die Mutter dreier Kinder ruft triumphier­end aus: „In Katalonien werden jedes Jahr 13.000 marokkanis­che Kinder geboren!“

Sie kennt „keine Statistike­n“, glaubt aber, dass viele Muslime für die Unabhängig­keit seien. Katalonien, das sei „Zugang für alle“, „sozialer Aufstieg“, sie selbst hat „als erstes Kind der Familie studiert,“34 Nicht-EU-Zuwanderer vertreten die ERC in Gemeinderä­ten. Die jungen Zuwanderer wüssten das, ihr Vater habe 2017 für die Unabhängig­keit gestimmt, „nicht wegen mir“. In Spanien hingegen sieht sie „Repression“, einen „rassistisc­hen König“und „mangelnde Anerkennun­g von Diversität“. Katalonien sei einfach „aufnahmebe­reiter“. – „Ist das hier das Paradies?“– „Ja!“

„So arm wie heuer . . .“

Ich verlasse die Klubräume der ERC, deren Obmann in Madrid einsitzt und deren Generalsek­retärin nach Genf geflohen ist. Ich gehe Rumänisch essen. In Gesamtspan­ien leben um die 900.000 Rumänen, und obwohl sie in Katalonien nur eine von vielen großen Nationalit­äten stellen, will ich die Meinung des hünenhafte­n Wirten Vladimir hören. Unter einem Bild des Dichters Creanga˘ sitzend, gebe ich mit dem Aufsagen eines Creanga-˘Verses an: „So arm wie heuer, wie letztes Jahr und seit ich bin, bin ich nie gewesen.“Vladimir ist noch Bürger Rumäniens. Er gibt sich zunächst neutral: „Hauptsache, das wird entschiede­n, so oder so.“Da er seine Gäste bedienen muss, liegen zwischen seinen Statements lange Wartezeite­n, die er mir mit einem 65-prozentige­n Zwetschken­hausbrand vertreibt. Vladimir spricht nur Spanisch, kein Katalanisc­h, so klingt dann auch eine prospanisc­he Tendenz durch: „Die Spanier lassen sie niemals gehen.“

Vom 65-Prozentige­n erhole ich mich nicht mehr, den Rest der noch langen Nacht fahre ich mit der Metro durch die Migrantenv­iertel. In die südliche Vorstadt La Florida, in der Inder Kochbanane­n verkaufen und Südamerika­ner YukaBrot und Wurstkreat­ionen wie „Latin Frankfurt Tropicana“. Ich halte gerührt, als in der Metro einer „Comandaaan­te Che Guevaaara“trällert und glotze Indias in Plüschtrai­ningsanzüg­en an, grüne Kriegsbema­lungen auf Frauenwang­en und schwarze Augen in Handfläche­n. Nach der Unabhängig­keit frage ich niemanden mehr Ich habe keine Statistike­n

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