Die Presse

Dorfleben

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Das

muss man sich auch einmal vorstellen: All die Jahre, in denen ich in meinem Dorf in Vorarlberg aufgewachs­en bin, wollte ich ganz dringend hinaus in die weite Welt da draußen, weil mein Dorf so klein war wie eine Haselnuss, aber wenn ich heute von der weiten Welt in meine Gemeinde zurückkehr­e, dann – verlaufe ich mich. Da gibt es neue Straßen, neue Häuser, ganze Siedlungen, und dieses Gebüsch war früher auch nicht da, und so biegst du in den falschen Schotterwe­g ein, dann noch einmal falsch, und schon führst du solcherart groteske Telefonges­präche: „Mama, ich find nicht mehr heim.“„Hast du getrunken?“„Nein! Ich bin hier in einer Wohngegend mit roten Blöcken . . .“„Komm nach Hause jetzt!“„Ja, ich weiß nicht wie!“usw.

Geändert hat sich wenigstens eine Sache nicht, nämlich die seit vielen Jahren an mich gerichtete Frage, wenn ich unsere Dorfbäcker­ei aufsuche: „ Hoi Duygu, wie looft’s mi’m Studium?“Viele Jahre nach Abschluss der Uni habe ich noch brav geantworte­t: „ Danke, i studier nümma“, aber mittlerwei­le habe ich mir dieselbe Hartnäckig­keit antrainier­t: „ Danke, es looft ganz guat, fünf Semmel bitte.“Ist es vielleicht so, denke ich mir: Wenn man die Dorfgemein­schaft verlässt und nicht mehr zurückkehr­t, dann lebt dort einfach der Letztzusta­nd des Dorf-Ichs weiter? Man bleibt auf ewig diejenige, die für die Uni weggezogen ist, oder die sich rausgeheir­atet hat, oder der seine Lehrstelle in Tirol fand. Es ist wie in diesen Hollywood-Filmen mit Geistern, da erscheinen ab und zu diese Wesen und haben immer dasselbe Gewand an, nämlich die Kleidung vom Tag ihres Todes. Ich will das jetzt nicht mit dem Tod vergleiche­n, sondern mit der Kleidung. Eine Art Hülle bleibt im Dorf zurück, und das ist wunderbar, denn die Hülle altert nicht, hat keine Rückenschm­erzen, und ihre Dioptrien-Stärke bereitet auch keinen Grund zur Sorge.

Es gehört zu den schönsten Vorstellun­gen, finde ich: im Alter in das Dorf zurückkehr­en und in der Bäckerei noch immer als Studentin durchgehen. Ich weiß schon, manche können sich ein Dorfleben niemals wieder vorstellen. Aber die sind halt auch nicht aus Vorarlberg.

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