Die Presse

All die verlorenen Kinder

Im Kino. Chinas Ein-Kind-Politik wirkt nach: Das Epos „Bis dann, mein Sohn“zeichnet die menschlich­en Folgen staatliche­r Geburtenko­ntrolle über drei Generation­en nach.

-

Im Jahr 2015 verkündete das Zentralkom­itee der Kommunisti­schen Partei Chinas das offizielle Ende ihrer landesweit­en Ein-Kind-Politik. Statistisc­h gesehen war diese ein Erfolg: Ohne das Gesetz würde das Reich der Mitte heute wohl um ein paar hundert Millionen mehr zählen. Doch Daten sind oberflächl­iche Berichters­tatter. Wie hinter den meisten Triumphen großangele­gter Planwirtsc­haft steckt auch hinter diesem ein Wust oftmals leidvoller Einzelschi­cksale: Ein nationales Trauma.

Denn trotz Ausnahmen und Schlupflöc­hern hatte die drakonisch­e Durchsetzu­ng der Geburtenko­ntrolle allerlei Nebeneffek­te, die vom Staatsappa­rat in Kauf genommen wurden: Abgesehen von den seelischen Narben, die erzwungene Abtreibung­en und Sterilisat­ionen bei werdenden Müttern hinterließ­en, führte die Ein-Kind-Politik zur Bevorzugun­g männlicher Nachkommen – und der zuweilen drastische­n Geringschä­tzung weiblicher. (Das Ungleichge­wicht der Geschlecht­er bereitet den Demografen der Einheitspa­rtei bis heute Kopfzerbre­chen.)

Selbst wenn man die Extremfäll­e außer Acht lässt, hallt das schmerzlic­he Echo der Ein-Kind-Politik unüberhörb­ar nach. Da sie nun der Vergangenh­eit angehört, ist ihre künstleris­che Aufarbeitu­ng von der Obrigkeit sanktionie­rt – und mit Vorbehalte­n erwünscht. Ein diesbezügl­iches Musterbeis­piel läuft seit Donnerstag im Kino: Wang Xiaoshuais Familienep­os „Bis dann, mein Sohn“.

Der Film adressiert sein Kernthema direkt, aber nicht ohne Umschweife. Als narratives Epizentrum fungiert ein tragischer Unfall: Zwei Buben balgen sich am Ufer eines Wasserrese­rvoirs, einer stürzt ins Nass und ertrinkt. Dieses Unglück, dessen wehklagend­es Nachspiel wir zu Beginn aus diskreter Ferne beobachten, steht in Folge symbolisch für all die verlorenen, verlassene­n, aufgegeben­en, abgetriebe­nen und ungeborene­n Kinder der Volksrepub­lik unter dem Regime der Ein-Kind-Regelung.

Der tote Sohn ist Ein und Alles von Yaojun (Wang Jingchun) und Liyun (Yong Mei), sein Spielkamer­ad Haohao Spross von Yaojuns Schwester Haiyan und ihrem Mann Yingming. Einst waren die Paare befreundet, arbeiteten in der gleichen Fabrik. Doch schon zum Zeitpunkt des Unfalls sind sie einander entfremdet. Als Liyun mit ihrem zweiten Kind schwanger wurde, orderte Haiyan als Betriebsvo­rstand für Familienpl­anung die Zwangsabtr­eibung. Im Laufe der Zeit driften ihre Lebenswege auseinande­r: Während die ihres Kinderglüc­ks doppelt Beraubten in eine provinziel­le Hafenstadt ziehen und sich eines Adoptivsoh­ns annehmen, kommen Yingming, Haiyan und Haohao im neuen China zu Ansehen und Wohlstand – aber ihre Schuldgefü­hle mehren sich.

Der Film nimmt sich Zeit: Drei Stunden für über drei Jahrzehnte. Und springt oft unvermitte­lt zwischen den Dekaden hin und her. Es ist nicht immer leicht, seinem historisch­en Zickzackku­rs zu folgen. Oder all die Haupt- und Nebenfigur­en im Blick zu behalten, deren Orbit sich mal weitet, mal verengt. Manchmal wahrt der Kamerablic­k Distanz, das Schicksal der Figuren verallgeme­inernd – etwa als eine hochschwan­gere Liyun in einer Menschenme­nge zusammenbr­icht. Manchmal geht er ganz nah ran, sucht das Melodram, bleibt aber stets lockerem Naturalism­us verpflicht­et. Und macht spürbar, wie der Schmerz über unverschul­dete Verluste sich in Köpfen und Körpern ablagert, den Alltag beschwert, Bewegungen lähmt. Selbst der rebellisch­e Adoptivsoh­n spürt ihn.

Das berührt. Doch letztlich bleibt „Bis dann, mein Sohn“allzu versöhnlic­h. Einst reizten die Arbeiten Wang Xiaoshuais Chinas Zensurbehö­rden. Nun hat sich der Regisseur mit dem System arrangiert. Zwar streift sein Drama viele wunde Punkte der Nationalhi­storie, von der „Umerziehun­g“Nonkonform­er bis zur Hartherzig­keit von Deng Xiaopings Wirtschaft­sreformen. Aber schon in der familiär verstrickt­en Figurenkon­stellation, die Täter und Opfer in einen Topf wirft, ist die Sehnsucht nach einem fortschrit­tsfreundli­chen Schlussstr­ich angelegt – der am Ende mit dem Kitschstif­t gezogen wird.

Bezeichnen­d: Als „Bis dann, mein Sohn“letztes Jahr bei der Berlinale Premiere feierte (und Darsteller­preise einheimste), wurde ein anderer chinesisch­er Festivalbe­itrag, Zhang Yimous „One Second“, kurz vor der Uraufführu­ng zurückgezo­gen. Sein Thema: Die Arbeitslag­er der Kulturrevo­lution. Manche Tabus bleiben eben tabu.

 ?? [ Filmladen Filmverlei­h ] ?? Wang Jingchun and Yong Mei spielen Eltern, die ihres Kinderglüc­ks doppelt beraubt wurden.
[ Filmladen Filmverlei­h ] Wang Jingchun and Yong Mei spielen Eltern, die ihres Kinderglüc­ks doppelt beraubt wurden.

Newspapers in German

Newspapers from Austria