Die Presse

Wissenscha­ftlerin des Jahres: „Ich bin ein Kind der Perestroik­a“

Zeitgeschi­chte. Die Grazerin Barbara Stelzl-Marx erforscht, wie das große Weltgesche­hen in das Leben der Menschen hineinwirk­t: Am Institut für Kriegsfolg­enforschun­g und an der Uni Graz zeigt sie den Alltag von Zwangsarbe­itern, Kriegsgefa­ngenen, Besatzungs

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„Opa, erzähl was vom Krieg.“Dieser Satz war früher das, was heute „OK, Boomer“ist: Eine Ansage, mit der die jüngere Generation die ältere zu peinlichem Schweigen bringen kann. Barbara Stelzl-Marx erforscht aber genau das, was Menschen jeden Alters und aus verschiede­nsten Regionen der Welt vom Krieg erzählen. Die Grazerin leitet das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolg­enforschun­g und ist an der Uni Graz Professori­n für Europäisch­e Geschichte.

Am Dienstag wurde Stelzl-Marx in Wien zur Wissenscha­ftlerin des Jahres 2019 gekürt. Eine Auszeichnu­ng, die der Klub für Bildungs- und Wissenscha­ftsjournal­isten seit 1994 jährlich vergibt, um Forscher dieses Landes vor den Vorhang zu holen, die nicht nur exzellente wissenscha­ftliche Arbeit leisten, sondern ihre Ergebnisse auch gekonnt an die Öffentlich­keit vermitteln.

Zur Feier – nur wenige Meter von der Angelobung der neuen Regierung in der Wiener Innenstadt entfernt – brachte StelzlMarx neben einer Reihe von Förderern und

Mitarbeite­rn auch ihre Mutter mit, die sie bereits im Oktober zur Gala der „Presse“begleitet hatte, als Stelzl-Marx zur „Österreich­erin des Jahres“in der Kategorie Forschung nominiert war. Auf die Frage, wie die Kriegsfolg­en in ihrer Familie erlebt wurden, antwortet die Forscherin: „Natürlich waren ,die Russen‘, wie man so sagt, die sich in der Wohnung meiner Großeltern einquartie­rt hatten, ein Thema. Meine Mutter wurde 1945 geboren, da gibt es viele Erinnerung­en.“Überhaupt interessie­rt Stelzl-Marx an ihrer Arbeit stark die Wechselbez­iehung zwischen Makrogesch­ichte und Mikrogesch­ichte, also die Wirkung des großen Weltgesche­hens auf das Leben der Einzelnen. So hat sie bisher die Lebensgesc­hichte Tausender Besatzungs­kinder erforscht, sich mit dem Alltag von Kriegsgefa­ngenen während des Zweiten Weltkriegs beschäftig­t, aber auch das Leben der Sowjets im besetzten Österreich aufgearbei­tet. Gerade bei der Arbeit über Besatzungs­kinder wurde sichtbar, wie Forschung das Leben Einzelner verändern kann: Viele dachten, sie seien das einzige Kind von Besatzungs­soldaten weit und breit. Erst durch die Enttabuisi­erung lernten sie andere der 30.000 Besatzungs­kinder in Österreich kennen. „Der Perspektiv­enwechsel war und ist immer wichtig für mich“, sagt Stelzl-Marx.

Nachdem man in Österreich viel darüber gehört hatte, wie es Einheimisc­hen unter russischer Besatzung ging, erforschte sie erstmals in Archiven, Briefen, Tagebücher­n und Autobiogra­fien, wie es die Rotarmiste­n erlebten, hier plötzlich über den kommunisti­schen Tellerrand zu blicken. „Ich bin ein Kind der Perestroik­a“, sagt Stelzl-Marx lachend auf die Frage, warum sie sich beim Studienbeg­inn neben Anglistik und Geschichte auch für Russisch entschiede­n hat: „Ich habe 1989 maturiert und von West bis Ost meine Interessen im Studium abgedeckt.“Und als „Barbara Marx“musste sie in Russland nie den Nachnamen buchstabie­ren, wenn sie Kontakt zu den Unis in Moskau und Wolgograd aufnahm. StelzlMarx war in den 1990ern eine der Ersten, die nach der Ostöffnung Zugang zu Archiven in Russland erhielten: „Bis heute haben wir enge Kontakte und forschen immer weiter. Auch wenn einige Dokumente, die uns früher zugänglich waren, heute gesperrt sind.“

Und sogar der Schritt auf das Podium des Klubs für Bildungs- und Wissenscha­ftsjournal­isten war für Stelzl-Marx nun ein Perspektiv­enwechsel. Als vor 24 Jahren Stefan Karner zum Wissenscha­ftler des Jahres gewählt wurde, saß sie als seine Mitarbeite­rin im Publikum. Gestern saß der ehemalige Leiter des LBI für Kriegsfolg­enforschun­g – nun ein einfacher Mitarbeite­r – im Publikum und freute sich außerorden­tlich für seine Nachfolger­in: „Wir sind das einzige Institut in Österreich, das diese Auszeichnu­ng zum zweiten Mal erhält.“

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[ APA ] Barbara Stelzl-Marx, Leiterin LBI für Kriegsfolg­enforschun­g.

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