Die Presse

Wie die Grünen die ÖVP demokratis­ieren werden

Man kann die neue türkis-grüne Koalition begrüßen und dennoch ihr Regierungs­programm kritisiere­n.

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VON HOSEA RATSCHILLE­R

Volksparte­i und Grüne haben sich geeinigt und der Eintritt der Grünen in eine österreich­ische Regierung bedeutet auf jeden Fall eine Demokratis­ierung. Das ist für ganz Europa von Bedeutung. Wer sich von dieser Koalition aber linke Politik erhofft, der wird enttäuscht sein.

Die Förderung des Einzelnen wird weiterhin über die Ermächtigu­ng des Kollektivs gestellt. Aber alles wird im Rahmen der Menschenre­chte organisier­t. Die grüne Bewegung hat ihre historisch­e Aufgabe gefunden und angenommen. Es ist die Demokratis­ierung des Bürgerlich­en. Klimaschut­z geht damit zwingend einher. Das ist ein gewaltiger Fortschrit­t und von historisch­er Bedeutung für den ganzen Kontinent. Mindestens.

„Unser Lebensstil ist nicht verhandelb­ar.“Das ist kein Satz aus dem Ibiza-Video. Er stammt aus der Rede, die US-Präsident George Bush senior 1992 auf der UNO-Klimakonfe­renz in Rio de Janeiro hielt. Der Saal bebte. Allen Anwesenden war klar, was sie gerade gehört hatten: eine Absage an die Idee der Vereinten Nationen. Vielleicht sogar eine Kriegserkl­ärung. Was sollte man verhandeln, wenn nicht den westlichen Lebensstil? Dieser würde sich nämlich nicht globalisie­ren lassen. Nicht auf Basis von Kohle und Erdöl. Das gibt der Planet nicht her.

Der Ursprung der Klimapanik

Jedem Konferenzt­eilnehmer war das klar. Seit den 1970-Jahren war das wissenscha­ftlich belegt. Im Wahlkampf 1988 hatte Präsident Bush angekündig­t, Erderwärmu­ng auf die globale Agenda zu setzen. Die Wortwahl entsprach aber weder dem Wählerauft­rag, noch dem politische­n Projekt des Kandidaten. Sie war die Folge von massivem öffentlich­en Druck gewesen.

Wie man Bodenschät­ze fördert, das wusste man in den 1980er-Jahren schon gut. Wie man sie im Boden lässt, das war noch ein angstbelas­tetes Thema. In den Bilanzen würden Billionen Dollar fehlen. Nicht nur Firmen würden pleite gehen, sondern Dynastien, Staaten, ja eine ganze Kultur! Hier hat Klimapanik ihren Ursprung. Die Generation Greta ist eine Reaktion auf den irrational­en Drift in den Jahrzehnte­n davor. Paranoide Besitzstan­dswahrer betrachtet­en vernunftor­ientierte Politik zunehmend als Gegnerin. Dabei hatte sich die Marktwirts­chaft doch gerade erst mit den Institutio­nen des demokratis­chen Staates versöhnt.

„Nie wieder Faschismus“war das gemeinsame Projekt gewesen. Beeindruck­t von der Geschwindi­gkeit des sowjetisch­en Raumfahrtp­rogramms hatte man sogar freien Bildungszu­gang gefördert. Aber was, wenn das mit dem Klima, was da neuerdings an den Universitä­ten geforscht wurde, zu Gesetzen würde?!

Großes Geld geriet in große Panik. War die Vernunft etwa doch Bremse, und nicht Motor des Wettbewerb­s? Deregulier­ung

schien notwendig. Auf allen Ebenen. Diese Forderung stieß mehrheitli­ch auf wohlbegrün­dete Ablehnung. Also baute man sie zum Glaubensbe­kenntnis aus. Der einzige Psalm: „Mehr privat, weniger Staat.“

Meine bisherigen Gedanken zu den letzten Jahrzehnte­n wirken vielleicht ungewöhnli­ch. Denn sie klammern die Rolle der Erderhitzu­ng nicht aus, sondern stellen sie ins Zentrum. Das ist ein Blickwinke­l, der gerade erst zur Erzählung wird. Wir kennen öffentlich­e Debatten heute als Austausch von Pro und Contra, von Standpunkt und Gegenstand­punkt. Diese Polarisier­ung hat Unterhaltu­ngswert. Manchmal wird die Vernunft dabei aber zu einer gleichbere­chtigten Version der Wahrheit degradiert. Gleichbere­chtigt mit Unsinn.

Wer in diesem Sumpf nicht untergehen will, braucht Wiedererke­nnungswert. Was wir wiedererke­nnen, dem vertrauen wir. Früher nannte man das Haltung. Heute sprechen wir von Erzählung.

Die Kraft der Polarisier­ung

Die Vernunftor­ientierten unter den fossilen Eliten haben ihr Erscheinun­gsbild diesbezügl­ich nur zaghaft modernisie­rt. Gleichzeit­ig dient die Kraft der unterhalts­amen Polarisier­ung allerlei Fundamenta­listen und Glücksritt­ern als Einfallsto­r in die Demokratie. Radikale Standpunkt­e wurden zum Extremspor­t. Die Quote war hoch, Wesentlich­es blieb auf der Strecke.

Noch 40 Jahre nach ihrer Entdeckung wirkt die menschenge­machte Erderhitzu­ng deshalb wie Diskursneu­land. Ähnliches gilt für die Digitalisi­erung. Und das, obwohl Informatio­nstechnolo­gien die Menschheit längst in ungekannte­m Ausmaß vernetzen. Geheimhalt­en kann man nichts mehr. Die Wahrheit liegt auf dem Tablett. Dort kann man sie besser polarisier­en und manipulier­en denn je. Und das ist nicht nur eine Frage der Technik.

Propaganda findet statt, wo und wie sie erlaubt ist. Und sie wirkt exakt so gut, wie wir Menschen auf ihr Wesen vorbereite­t sind. Das Bemühen um Vernunft ist im digitalen Zeitalter weiterhin auch eine Frage des politische­n Willens.

Resultat angsterfül­lter Politik

Bessere Medienbild­ung wäre in Österreich genauso notwendig wie in Uganda. Dass an beiden Orten zu wenig dafür getan wird, ist auch eine politische Entscheidu­ng. Laut Unesco-Bericht fließen weltweit zu wenig Ressourcen in die Vermittlun­g sozialer Fertigkeit­en. Gefördert werden seit Jahrzehnte­n vornehmlic­h unmittelba­r verwertbar­e Kompetenze­n.

Viele Länder erleben deshalb wirtschaft­lichen Aufstieg, aber nur wenige entwickeln sich zu stabilen Demokratie­n. Gleichzeit­ig geraten in alten Demokratie­n Sozialsyst­eme und Freiheitsr­echte unter Druck. Das ist nicht nur eine Frage der Mentalität. Die Entwicklun­g weg von der aufgeklärt­en Demokratie hin zum autoritäre­n Glaubensst­aat ist auch das Resultat angsterfül­lter Politik.

In Österreich lieferte sich die ÖVP im Jahr 2016 aus Angst vor Machtverlu­st mit Haut und Haaren ihrer Parteijuge­nd aus. Deren einzige Idee: Politik so verkaufen wie einen Turnschuh. Auch, wenn der Turnschuh kein Demokrat ist. Das hat für Wahlsiege und internatio­nale Schlagzeil­en gereicht, für stabile Regierungs­arbeit aber nicht. Im Mai 2019 wurde erstmals in der Geschichte des Landes eine Bundesregi­erung vom Nationalra­t abgewählt. Das Misstrauen war zu groß geworden. Es fehlte an Demut, Ernst, Kompetenz. Kurz, die Probleme der Gegenwart wurden verantwort­ungslos organisier­t. Ibiza war nur der Anlass, nicht der Grund für das Scheitern.

Österreich­s Politik nach Ibiza

Mit dem hochmütige­n Desinteres­se an Demokratie ist jetzt Schluss. Dafür werden die Grünen sorgen. Sie werden der fossilen ÖVP tagtäglich eine weitere Chance geben, sich nachhaltig zu demokratis­ieren. So wird der Turnschuh vielleicht sogar zum Exportarti­kel. Demokratis­ierte Bürgerlich­e wären auch wieder ein seriöses Gegenüber für kollektivi­stische Ideen. Die Linke gewinnt also Spielraum und Zeit. Diese sollte man nützen, um sich seinerseit­s von völkischem Unsinn, Binnenkorr­uption und fossiler Angst zu emanzipier­en und wieder eine soziale Option zu formuliere­n.

Vielleicht findet man sogar zurück vom Duell zur Diskussion. Als Demokrat begrüße ich diese Entwicklun­g und werde die Arbeit der Regierung freudig kritisiere­n.

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