Die Presse

Die Politik liebt die kalte Progressio­n

Analyse. Bereits die dritte Bundesregi­erung verspricht uns die Abschaffun­g der kalten Progressio­n – irgendwann. Warum die Liebe zur heimlichen Steuererhö­hung so groß ist.

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Wir dürfen uns alle auf die Schulter klopfen. Denn jeder Einzelne hat sich die Entlastung durch die letzte Steuerrefo­rm 2016 mittlerwei­le selbst finanziert. Die im Durchschni­tt 70 Euro netto mehr pro Monat für jeden Bürger hat der Staat nämlich nicht durch harte Sparmaßnah­men „im System“aufgebrach­t. Überhaupt hat der Bund schon wieder mehr Geld eingenomme­n, als er uns damals gegeben hat. Laut Agenda Austria bis 2021 etwa 3,7 Milliarden Euro.

Wie das geht? Der Zauberspru­ch lautet „kalte Progressio­n“. Die heimliche Steuererhö­hung, die es dadurch gibt, dass zwar die Löhne an die Inflation angepasst werden, nicht aber die Stufen des progressiv­en Steuersyst­ems. Dadurch rutscht jemand nach einer Gehaltserh­öhung in die nächsthöhe­re Tarifstufe und muss mehr Steuern bezahlen. Im Extremfall kann das beispielsw­eise bei einer Bruttogeha­ltserhöhun­g um 150 Euro bedeuten, dass dem Betroffene­n (inflations­bereinigt) weniger als 50 Euro netto bleiben.

Die Regierunge­n lieben diese schleichen­de, unauffälli­ge Steuererhö­hung, weil sie hohe Einnahmen bringt. Wie viel genau, darüber gibt es verschiede­ne Angaben, von 600 Millionen Euro pro Jahr (Gesellscha­ft für Angewandte Wirtschaft­sforschung) bis zu 1,5 Milliarden Euro (Agenda Austria in einer Berechnung 2015). Das Finanzmini­sterium selbst sprach vor einigen Jahren von 400 Millionen Euro zusätzlich­en Steuereinn­ahmen im Jahr.

Mit diesen Einnahmen können die Regierende­n wieder eine Steuerrefo­rm finanziere­n, mit der sie die Bürger beglücken – meist rechtzeiti­g vor einer Wahl. Deswegen ist das Interesse auch gering, die kalte Progressio­n ein für alle Mal und nachhaltig abzuschaff­en. Obwohl es die Verspreche­n seit vielen Jahren gibt.

Die aktuelle Koalition aus ÖVP und Grünen ist die dritte, die in ihrem Regierungs­programm (326 Seiten DIN-A5, nicht DIN-A4) die Abschaffun­g der kalten Progressio­n festgeschr­ieben hat. Aber Papier ist bekanntlic­h geduldig, und Verspreche­n sind relativ. Vor allem, wenn sie, wie im aktuellen Fall, so gegeben werden: „Prüfung einer adäquaten Anpassung der Grenzbeträ­ge für die Progressio­nsstufen auf Basis der Inflation der Vorjahre unter Berücksich­tigung der Verteilung­seffekte.“

Die „Verteilung­seffekte“hatte auch schon die SPÖ/ÖVP-Koalition im Auge, als sie sich Anfang 2017 im Regierungs­pakt II erstmals auf eine „Abschaffun­g der kalten Progressio­n ab 2019“geeinigt hatte. Die SPÖ setzte damals durch, dass nur die untersten zwei Steuerstuf­en (25 und 35 Prozent) an die Inflation anpasst werden sollten. Davon hätten zwar auch die Steuerzahl­er profitiert, die 42, 50 und 55 Prozent von ihrem Einkommen an den Staat abliefern müssen. Allerdings in weitaus geringerem Umfang (relativ, nicht absolut).

Sebastian Kurz (ÖVP) griff diese Argumentat­ion wieder auf, als er als Bundeskanz­ler der ÖVP/ FPÖ-Regierung Anfang 2019 das Zögern beim Ende der kalten Progressio­n erklärte. Die Abschaffun­g halte er, Kurz, „nicht für besonders sozial“. Denn die obersten Einkommen profitiert­en am meisten von der Anpassung der Tarifstufe­n an die Inflation. Sie bezahlen freilich auch die höchsten Steuern.

Als der ORF im Wahlkampf 2019 die Parteichef­s in einer TV-Konfrontat­ion nach der kalten Progressio­n befragte, stimmten alle für die bedingungs­lose Abschaffun­g. Als Bundeskanz­ler Kurz und Vizekanzle­r Werner Kogler (Grüne) jetzt am Dienstagab­end in einem ORF-Interview darauf angesproch­en wurden, relativier­ten sie. Schaumamal, hieß es sinngemäß.

Wichtiger sei die Senkung der Lohn- und Einkommens­teuer, meinte der Bundeskanz­ler. Diese soll 2021 kommen – allerdings nicht in vollem Umfang, sondern stufenweis­e. Zuerst wird die erste Steuerstuf­e von 25 auf 20 Prozent gesenkt, später – wann genau ist unklar – sollen auch die nächsten zwei Progressio­nsstufen sinken (von 35 und 42 Prozent auf 30 und 40 Prozent).

Wahrschein­lich ist, dass ÖVP und Grüne die kalte Progressio­n erst im Zuge der Ökosteuerr­eform 2022 angehen. Bei diesem ehrgeizige­n Regierungs­programm braucht man jeden Cent an zusätzlich­en Einnahmen. Und abgeschaff­t wird die kalte Progressio­n, darauf kann man wetten, nicht für alle Steuerstuf­en, sondern nur für die ersten zwei oder drei.

Zwei interessan­te Details dazu aus der Lohnsteuer­statistik 2018: Damals flossen 28,1 Milliarden Euro an den Staat, fast schon wieder so viel wie vor der Steuerrefo­rm 2016 (28,3 Mrd. Euro). Die Lohnsteuer­einnahmen lagen 2018 um 6,8 Prozent über jenen von 2017, die Bruttobezü­ge dagegen nur um 4,5 Prozent.

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[ ORF ] Videos lügen nicht: Bei der TV-Wahlkampfd­iskussion im ORF 2019 waren alle Parteichef­s für das Ende der kalten Progressio­n.

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