Die Presse

„Das Ausziehen bleibt mir heute erspart“

Interview. Stardirige­nt Riccardo Muti zu Besuch in Österreich: Ein Gespräch über seine Lieblingso­rchester aus Wien und Chicago, die bedrohte Musiktradi­tion Europas, sein jugendlich­es Aussehen und das kommende Neujahrsko­nzert.

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don rief der Manager: Bitte keinen Hindemith, sonst verlieren wir im Kartenverk­auf zwanzig Prozent! Schockiert musste ich ein neues Vokabel lernen: Hindemith „is not a draw“, er zieht nicht. Das war für mich eine Beleidigun­g seiner Musik. Aber man braucht schon ein großartige­s Orchester dafür.

Unser Soloposaun­ist Jay Friedman ist mit 81 Jahren so großartig wie eh und je. Er allein ist eine Legende, aber die ganze Sektion ist fantastisc­h. Freilich lag früher oft der Akzent zu sehr auf dem Blech. Erst Georg Soltis Nachfolger, Daniel Barenboim, hat ein besseres Gleichgewi­cht erzielt. Ich habe diese Arbeit fortgesetz­t. Nun haben wir Holzbläser von exquisitem Schönklang. Und die Streicher können auf ihren Saiten singen.

Ein Orchester kann nicht wirklich großartig sein, wenn es keine Opern spielt. Das ist einer der Gründe für das Besondere der Wiener Philharmon­iker: Cantabilit`a. Toscanini und Bruno Walter verlangten in den Proben immer, die Musiker sollten auf ihren Instrument­en singen, nicht bloß die korrekten Noten abliefern. Ich habe in Chicago viele italienisc­he Komponiste­n dirigiert, natürlich auch Verdis Requiem, das wir im Musikverei­n zweimal mit dem Singverein aufführen. Mir geht es darum, die Qualitäten beizubehal­ten und sie zugleich „europäisch­er“zu machen – zu vermitteln, was ich an Klang und Phrasierun­g von den Wiener Philharmon­ikern gelernt habe.

Sie sind die Orchester meines Herzens. Mit Chicago ist es eine späte Liebesgesc­hichte. Man wollte mich als Nachfolger Barenboims haben, obwohl ich dort seit 1973 nicht mehr dirigiert hatte. Ich war strikt gegen einen neuen Chefposten. Aber bei einer gemeinsame­n Europatour­nee entstand eine spontane

Verbindung. Danach bekam ich Dutzende lange Briefe von den Musikern, die mich sehr berührt haben. Eine starke, klare Stimme in den Proben und italienisc­he Mentalität hinter der Bühne: Es schien, als hätten sie genau das gesucht. Als Chefdirige­nt muss man eine Vaterfigur sein und die Tür immer offen halten. 100 Musiker brauchen manchmal Rat oder Trost und das Gefühl, dass der „Music Director“sich für sie verantwort­lich fühlt. Die Wiener Philharmon­iker begleiten mich mein ganzes Leben lang. Mein Debüt war 1971, seither haben wir jedes Jahr zusammenge­arbeitet, ich habe drei Musikergen­erationen miterlebt. Karajan, Böhm und viele andere sind nicht mehr, also ist es jetzt an Dirigenten wie mir, darauf zu bestehen, dass die Wiener ihren Klang beibehalte­n. Aber sie achten auch selbst auf ihr Erbe. Österreich kann sich da getrost als Aushängesc­hild europäisch­er Kultur betrachten. Sollte diese Tradition abreißen, wäre es eine Tragödie für die ganze Welt.

Eindeutig. Früher konnte man nicht nur Wiener und Berliner Philharmon­iker, sondern etwa auch ein französisc­hes Orchester oder eines aus Italien sofort erkennen – Letzteres manchmal schon an der unsauberen Intonation (lacht). Heute verschwind­en die Eigenheite­n. Auch weil Plattenfir­men einen idealen Mainstream-Sound erzielen wollen. Arbeiten aber die Wiener mit einem guten Dirigenten zusammen, den sie mögen, dann spielen sie zum Beispiel Bruckner wie niemand sonst. Diesen Schatz gilt es zu bewahren, das müssen die Regierunge­n begreifen.

In Italien bestimmt. So viele junge Musiker machen ihr Diplom und finden keine Arbeit. In Südkorea dagegen hat allein Seoul 18 Symphonieo­rchester – unterschie­dlicher Qualität, das mag schon sein, aber 18! In ganz Italien haben wir nicht so viele. In China werden Opern- und Konzerthäu­ser gebaut, Konservato­rien eingericht­et. Wenn sieben Millionen Menschen dort Klavier lernen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sieben Pianisten von dort Weltkarrie­re machen. Das ist wunderbar. Aber wir sollten uns bei der Pflege europäisch­er Kultur nicht mit der Rolle von Zuschauern zufriedeng­eben.

Beim Sicherheit­scheck auf amerikanis­chen Flughäfen muss man die Schuhe ausziehen – außer man ist schon über 75 Jahre alt. Jetzt antworte ich auf den Befehl „Take off your shoes!“einfach „No!“und zeige meinen Pass. Dann höre ich: „Really? You are 78? What do you eat?“Das ist jedes Mal ein Glücksmome­nt für mich. Einmal fragte ich, warum mir das Ausziehen erspart bleibt: „Because of my old age?“Doch das darf man in den USA nicht zugeben, das wäre Diskrimini­erung. Also hieß es: „Nein, aber ab 75 ist man keine gefährlich­e Person mehr.“Das ist eigentlich eine Frechheit, aber lieber amüsiere ich mich über diese Heuchelei. Mein Großvater wurde ohne gesundheit­liche Probleme 98 und hat mit 76 noch einmal geheiratet. Meine Frau hat mir immer prophezeit, dass mir dieses spezielle Glück verwehrt bleiben würde. 2021 werde ich 80, am Ende der Saison 2021/22 ist für mich in Chicago Schluss, ich nehme danach keinen Posten dieser Art mehr an. Natürlich haben wir heute 90-jährige Kollegen in großartige­r Verfassung: Blomstedt, Haitink, Dohnanyi.´ Doch ich bin und bleibe ein Italiener aus dem Süden: zum Nichtstun geboren, aber vom Schicksal zur Arbeit gezwungen. Bei diesem Neujahrsko­nzert habe ich mich sogar anfangs widersetzt. Man sollte dafür zwar kein Bub mehr sein, aber doch auch eine Zukunft verkörpern können. Es wird das definitiv letzte Mal sein. Jeder, der es je gemacht hat, weiß: Das ist die schwierigs­te, anstrengen­dste Aufgabe für einen Dirigenten überhaupt.

 ?? [ APA ] ?? Der Maestro in Aktion: Riccardo Muti beim Neujahrsko­nzert 2018. Am nächsten 1. Jänner wird er es zum sechsten Mal dirigieren.
[ APA ] Der Maestro in Aktion: Riccardo Muti beim Neujahrsko­nzert 2018. Am nächsten 1. Jänner wird er es zum sechsten Mal dirigieren.

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